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Warum jeder jedem etwas schuldet und keiner jemals etwas zurückzahlt

Warum jeder jedem etwas schuldet und keiner jemals etwas zurückzahlt

Titel: Warum jeder jedem etwas schuldet und keiner jemals etwas zurückzahlt
Autoren: John Lanchester
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die in Regierungskreisen verbreitet war. David Kynaston hat in vier Bänden eine meisterhafte Geschichte der City of London vorgelegt; im vierten Band setzt er sich mit der »kulturellen Vormachtstellung der City« auseinander und kommt zu dem Schluss, dass »in vielerlei Hinsicht (kurzfristige Performance, Unternehmenswertsteigerung, Firmenranglisten) und in allen möglichen Bereichen (der Bildung, der Gesundheitsversorgung und der BBC, um nur drei zu nennen) die gewinnorientierten Vorgaben des Finanzsektors pauschal auf die britische Gesellschaft übertragen wurden«. 7 Eine Regierung nach der anderen las der City of London gewissermaßen jeden Wunsch von den Augen ab. Dieser Prozess begann 1979 mit der Wahl Margaret Thatchers. Zu den ersten Amtshandlungen der neuen Regierung – sowohl praktisch als auch symbolisch von einiger Bedeutung – gehörte die Abschaffung der Devisenkontrolle. Dadurch öffnete sich der britische Markt für den internationalen Kapitalfluss. In späteren Legislaturperioden folgte die Regierung diesem Trend, und 1986 kam die Entwicklung in dem sogenannten »Big Bang« zu ihrem vorläufigen Höhepunkt. Damals wurde ein Prozess der Deregulierung, der nodunrung, drmalerweise Jahre oder sogar Jahrzehnte gedauert hätte, in einem einzigen Erlass zusammengefasst. Im Endeffekt bedeutete dies, dass (um es so einfach wie möglich auszudrücken) alle historischen Barrieren, Trennmechanismen und Regeln, die bis dahin für die verschiedenen Bereiche der Banken, des Finanzmarktes und der Börse gegolten hatten, mit einem Mal abgeschafft wurden. Ich habe in diesem Buch durchgehend den Begriff »Bank« verwendet, um meine Ausführungen zu vereinfachen, aber in Wahrheit sind viele heutige intermediäre Finanzinstitute – also Instanzen, die zwischen den Menschen, die Geld ausleihen, und denen, die es verleihen,vermitteln – strenggenommen gar keine Banken mehr. So gibt es zum Beispiel Bausparkassen, Kreditgenossenschaften, Private Equity Fonds (Kapitalbeteiligungsgesellschaften), Spezialisten für Kreditverbriefungen, Geldmarktfonds, Hedgefonds (stark spekulative Investmentfonds) und Versicherungsgesellschaften. Sie alle unterliegen ganz unterschiedlichen Regulierungen und viele von ihnen fungieren als eigenständige Teile ein- und derselben Institution. Diese Institutionen, die gemeinsam die Welt der »Nicht-Banken« bilden, werden manchmal auch das »Schattenbankensystem« genannt. In Großbritannien ist die City of London gewissermaßen dessen Hauptstadt.
    All dies hat zu einer starken Dominanz des Finanzmarkts im Wirtschaftsleben Großbritanniens geführt. In den USA gilt das ganz ähnlich für die Wall Street. Deshalb ist es umso erstaunlicher, wie wenig die meisten Menschen darüber wissen, was an diesen Finanzplätzen vor sich geht – wozu sie dienen, was sie bewirken und welchen Einfluss sie auf den Alltag jedes einzelnen Menschen haben. Sogar gut informierte Bürger haben im Allgemeinen keine Ahnung, welche Macht der Bond Market (Renten- oder auch Anleihenmarkt) weltweit ausübt. Man kann seine Bedeutung zum Beispiel an einer berühmten Bemerkung ablesen, die James Carville, der verantwortliche Stratege bei Clintons Präsidentschaftskampagne, in den Anfangsjahren von dessen erster Amtszeit äußerte: »Früher habe ich immer gedacht: Wenn es Reinkarnation gäbe, dann würde ich gern als Präsident oder Papst oder erfolgreicher Baseballspieler wiedergeboren werden. Aber jetzt möchte ich als Anleihenmarkt wiedergeboren werden. Man kann alle und jeden einschüchtern.« Der normale Wähler weiß aber fast nichts darüber, wie diese Märkte funktionieren und welche Auswirkungen sie haben. David Kynaston weist darauf hin, dass in kommunistischen Ländern den Kindern schon in der Grundschule die Grundsätze und Praktiken ihres politischen Systems beigebracht und dass sie gründlich in den Mechanismendieses Systems gedrillt werden. In der kapitalistischen Welt gibt es nichts Vergleichbares. Der Finanzmarkt ist, was seineprinzipielle Funktionsweise angeht, für uns ein fernes, fremdes Land, über das wir nur sehr wenig wissen.
    Diese Denkweise spielte bei allen noch folgenden Ereignissen eine wichtige Rolle. Nach der Öffnung der Berliner Mauer 1989 veranstaltete der Kapitalismus eine Siegesparty, die fast zwei Jahrzehnte lang dauerte. Der Kapitalismus ist keineswegs von Natur aus fair: Er ist durchaus nicht geneigt, die Früchte des Wirtschaftswachstums von sich aus gleichmäßig zu verteilen.
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