Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Warum französische Kinder keine Nervensägen sind: Erziehungsgeheimnisse aus Paris (German Edition)

Warum französische Kinder keine Nervensägen sind: Erziehungsgeheimnisse aus Paris (German Edition)

Titel: Warum französische Kinder keine Nervensägen sind: Erziehungsgeheimnisse aus Paris (German Edition)
Autoren: Pamela Druckerman
Vom Netzwerk:
neurotische Frauen. Sie dürfen gern ein intellektuelles, charmantes, kompliziertes Chaos um sich herum verbreiten wie Meg Ryan in Harry und Sally oder Diane Keaton in Der Stadtneurotiker. Obwohl sie nichts Schlimmeres als Liebeskummer haben, geben viele meiner New Yorker Freunde mehr Geld für den Therapeuten als für die Miete aus.
    Solche Menschen gedeihen nicht in Paris. Die Franzosen mögen zwar Woody-Allen-Filme, aber im wirklichen Leben ist die Pariserin gelassen, diskret, leicht unterkühlt und extrem entscheidungsfreudig: Sie bestellt, was auf der Speisekarte steht. Sie spricht nicht über ihre Kindheit oder über Diäten. Während es in New York nur so wimmelt von Frauen, die über die neuesten Katastrophen in ihrem Leben und ihre Selbstfindungsaktivitäten reden, geben in Paris Frauen den Ton an, die nichts bereuen – zumindest nach außen hin. In Frankreich besitzt das Wort »neurotisch« keine selbstironische Note. Das ist nichts, womit man angeben kann, sondern eine Krankheit.
    Sogar Simon, der bloß Brite ist, staunt über meine Selbstzweifel und mein zwanghaftes Bedürfnis, über unsere Beziehung zu reden.
    »Woran denkst du?«, frage ich ihn immer wieder, meist wenn er gerade Zeitung liest.
    »An holländischen Fußball«, sagt er dann jedes Mal.
    Ich weiß nicht, ob er das ernst meint. Ich habe festgestellt, dass Simon ständig ironisch ist. Alles was er sagt, selbst »Ich liebe dich«, geht mit einem kleinen Grinsen einher. Nur Lachen tut er fast nie, nicht einmal wenn ich versuche, einen Witz zu machen. (Es gibt enge Freunde, die nicht mal wissen, dass er Lachgrübchen hat.) Simon besteht darauf, es sei typisch britisch, nicht zu lachen. Aber ich bin mir sicher, schon einmal lachende Engländer gesehen zu haben. Außerdem finde ich es entmutigend, wenn mir jemand, mit dem ich endlich Englisch reden kann, gar nicht richtig zuhört.
    Seine Weigerung zu lachen, verweist auf eine weitere kulturelle Kluft zwischen uns: Als Amerikanerin muss ich immer alles klipp und klar gesagt bekommen. Auf der Heimfahrt von Simons Eltern frage ich ihn, ob sie mich wohl mögen.
    »Natürlich mögen sie dich, merkst du das denn nicht?«, fragt er.
    »Aber haben sie dir auch gesagt, dass sie mich mögen?«
    Um neue Kontakte zu knüpfen, treffe ich mich mit Freunden von Freunden aus Amerika. Die meisten sind ebenfalls Expats, und keiner klingt begeistert, wenn er von einem weiteren Neuankömmling hört. Viele scheinen aus der Tatsache, dass sie in Paris leben, eine Art Beruf gemacht zu haben, denn genau so lautet in der Regel ihre Antwort auf meine Frage: »Und was machst du so?«. Viele kommen zu spät, so als wollten sie mir beweisen, wie gut sie sich schon eingelebt haben. (Später erfahre ich, dass Franzosen bei Zweiertreffen in der Regel pünktlich sind. Nur bei Gruppenevents gilt es als chic, zu spät zu kommen, dazu zählen allerdings auch Kindergeburtstage.)
    Meine Versuche, französische Freunde zu finden, gestalten sich noch frustrierender. Auf einer Party unterhalte ich mich angeregt mit einer Kunsthistorikerin in meinem Alter, die hervorragend Englisch spricht. Aber als ich sie zum Tee besuche, stellt sich heraus, dass wir unter »sich anfreunden« etwas ganz Unterschiedliches verstehen. Als Amerikanerin bin ich ganz wild auf Geständnisse unter Freundinnen, darauf, »Ich auch, ich auch!« zu rufen. Doch sie serviert formvollendet Petit Fours und spricht über Kunsttheorien. Als ich gehe, bin ich immer noch hungrig und weiß noch nicht mal, ob sie einen Freund hat.
    Das einzige »Ich auch!«, das mir vergönnt ist, bescherte mir Edmund White, ein amerikanischer Schriftsteller, der in den 1980er-Jahren in Frankreich lebte. Er ist der Erste, der mir bestätigt, dass es völlig normal ist, sich niedergeschlagen und verloren zu fühlen, wenn man in Paris lebt. »Stellen Sie sich vor, Sie sind gestorben und überaus dankbar, weil sie in den Himmel gekommen sind, doch eines Tages (oder Jahrhunderts) dämmert Ihnen, dass Ihre hauptsächliche Stimmung die der Melancholie war, obwohl Sie die ganze Zeit überzeugt schienen, das Glück würde gleich hinter der nächsten Ecke auf Sie warten. Etwas Vergleichbares spürt man, wenn man Jahre oder sogar Jahrzehnte in Paris lebt. Es ist eine sanfte Hölle, so gemütlich, dass sie einem erscheint wie der Himmel.«
    Trotz meiner Zweifel an Paris habe ich an Simon keine Zweifel. Ich habe mich damit abgefunden, dass »dunkel« zwangsläufig mit »unordentlich« einhergeht.
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher