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Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war: Roman. Alle Toten fliegen hoch, Teil 2 (German Edition)

Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war: Roman. Alle Toten fliegen hoch, Teil 2 (German Edition)

Titel: Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war: Roman. Alle Toten fliegen hoch, Teil 2 (German Edition)
Autoren: Joachim Meyerhoff
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Kinder wurden an warmen Tagen in die Stationsgärten gelegt. Diese waren hoch eingezäunt, wie Gehege für gefährliche Tiere, und teilweise an den Oberkanten mit Stacheldraht gesichert – dabei sah man weit und breit niemanden, der solche Hindernisse er- oder sogar überklettern konnte. Da blieb ich oft stehen, hakte meine Finger in den Zaun und blickte über die mit Löwenzahn oder Gänseblümchen bedeckte Wiese hinweg, in der auf bunten Decken die Patienten wie hingestreut lagen. Einige versuchten zu krabbeln, andere rekelten sich, genossen die Sonnenstrahlen. Da ragten weit gespreizte Zehen aus dem Gras, dort eine vereinzelte Hand, die sich krallig in den blauen Himmel reckte. Manche hatten sich die Unterhosen heruntergestrampelt, und ich sah ihre Genitalien. An einem Tisch saßen Schwestern und Pfleger, rauchten und tranken Kaffee. Hinter ihnen eine Stellage, an der abgeschnallte Prothesen hingen: verschieden geformte Stütz-Korsagen mit Lederriemchen und Schnallen für die Brust, das Becken oder für Köpfe, die ohne Stütze wegsacken würden. Einem Jungen war das Stofftier aus der Hand gefallen. Es lag direkt neben ihm im Gras. Er strengte sich an, aber es gelang ihm einfach nicht, es zu erreichen. Kam ich Stunden später aus der Schule, hatte er es immer noch nicht geschafft.
    Die Pfleger kannten mich und winkten, oder eine der Schwestern brachte mir etwas Leckeres zum Gitter, schob ein Stück Marmorkuchen durch den Zaunspalt.
    Es war mein Zuhause.
    Vom Sehen kannte ich Hunderte. Jungen und Mädchen, Jahr für Jahr hinter denselben verschmierten Fensterscheiben. Es war die große Zeit der Fingerfarbe, und expressive Farborgien bedeckten oft ganze Fensterfronten. In Kitteln standen die Patienten hinter den Scheiben und wischten und matschten das Glas voll.
    Schon immer erstaunte mich, dass ich nur selten auf Patienten stieß, die miteinander spielten. Es gab einen großen Spielplatz mit einem herrlichen Hubschrauber-Klettergerüst, Schaukeln und Rutschen – doch der war meistens verwaist. Vielleicht war das sogar das Auffälligste: Obwohl das Gelände voll, ja überfüllt war, waren viele der Patienten ganz für sich, mit sich beschäftigt. Selbst wenn sie an der Hand eines Pflegers gingen, blieben sie Einzelne.
    Es gab solche mit dickledernen Helmen, die aussahen, als wären sie aus Medizinbällen herausgeschnitten worden. Und andere mit wattierten Fäustlingen, die fest mit der hinter dem Rücken zu knöpfenden Jacke verbunden waren. Ihre Schuhe, Hosen und Hemden, Kleider, Pullover und Mäntel kamen aus der Altkleidersammlung. Dadurch wirkten sie wie aus der Zeit gefallen. Waren es die abgetragenen, planlos miteinander kombinierten Klamotten oder die Art und Weise, wie sie sie trugen, die stets ein Bild des Nicht-Passens, des Unbequemen, des leicht Verwahrlosten erzeugten?
    Einmal geschah es sogar, dass ich einen Patienten sah, einen Jungen, der meinen ausrangierten Pullover trug. Das war ein ungutes Gefühl. Dass da etwas, was ich nicht mehr brauchen konnte, zerschlissen und ausgeleiert, für jemand anderen genau das Richtige sein sollte.
    Oft war ich mir aber auch nicht sicher, ob die Kinder oder Jugendlichen, denen ich auf dem Psychiatriegelände begegnete, überhaupt Patienten waren. Es kamen immer viele Besucher. Es gab einen Kindergarten für Mitarbeiter und jede Menge ambulanter Behandlungen für Probleme aller Art.
    Eine der Hauptbeschäftigungen der Patienten war es, zu rauchen. Sie taten es nie nebenher, so wie mein Vater, der mit Zigarette im Mund einen Krimi las, Auto fuhr oder, auch das kam vor, sich elektrisch rasierte. Die Patienten rauchten mit gespannter Ausschließlichkeit. Schon die Art, wie sie die Zigarette aus der Schachtel zogen, sie hielten, zum Mund führten und an ihr zogen, war von verbissener Aufmerksamkeit. Sie saßen dabei auf den Bänken, lehnten an den Mauern oder wandten sich ab, um ihre Ruhe zu haben. Den Blick nach innen gewendet, inhalierten sie tief, schienen betäubt und abwesend zu sein. Oft kam es mir so vor, als wären ihre Lippen hart vor Gier, so eng schlossen sie sich um die Filter. Sie strahlten nichts Lässiges aus, hatten keine weich abgeknickten Handgelenke, vollführten keine grazilen Schwünge, wie ich sie von den Filmstars her kannte. Sie wirkten eher so, als seien sie mit Heimlichkeiten beschäftigt, als lauerten sie schon verschlagen und gierig auf den nächsten Glimmstängel.
    Erstaunlicherweise waren viele von ihnen sehr jung. Doch darum kümmerte sich
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