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Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war: Roman. Alle Toten fliegen hoch, Teil 2 (German Edition)

Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war: Roman. Alle Toten fliegen hoch, Teil 2 (German Edition)

Titel: Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war: Roman. Alle Toten fliegen hoch, Teil 2 (German Edition)
Autoren: Joachim Meyerhoff
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Sie trösteten mich und quetschten jede noch so winzige Einzelheit aus mir heraus.
    Dass sich allerdings in den nächsten Tagen kein einziger Polizist bei mir meldete, dass ich nicht in die Zeitung kam – ich stellte mir ein großformatiges Bild vor, auf dem ich ernst aussehend mit dem Finger auf die Fundstelle zeigte – und dass es für Tote keinen Finderlohn gab, all das kränkte mich nachhaltig.
    Wieder und wieder musste ich in den folgenden Wochen von meinem Fund berichten. In der Schule, im Schwimmverein, meinen Brüdern, Verwandten und den Freunden meiner Eltern. Ich verfeinerte die Geschichte, merkte mir gelungene Formulierungen und entwickelte sogar so etwas wie auf die Zuhörerschaft abgestimmte Varianten. Meine Mitschüler und Brüder wollten sich gruseln, das Wort »verwest« war eine sichere Bank, und der Satz »Seine geöffneten Augen starrten in den Himmel. Sie waren leicht verwest« ließ auch mich jedes Mal aufs Neue erschaudern. Männliche Erwachsene galt es durch kindlich resolutes Handeln zu beeindrucken: »Ich hab mir alles genau eingeprägt: Uhrzeit, Fundstelle, die Haltung der Leiche, und bin losgerannt, direkt zum Direktor, und hab alles gemeldet!« Dem weiblichen Publikum gegenüber ließ ich nach und nach meine Scheu vor zu großem Pathos fahren und servierte schamlos Sätze wie diesen: »Ein Windhauch wehte abgerissene Rosenblüten über den steifen Körper. Einige verfingen sich in seinem grauen Haar.«
    Natürlich war es mir vollkommen klar, dass ich log, aber es kam mir so vor, als würde die Geschichte ein Eigenleben führen und ich die Verantwortung dafür tragen, ihr zu genügen, mich ihrer würdig zu erweisen. Wer findet schon einen Toten? Ich wollte unbedingt, dass sich dieses außergewöhnliche Ereignis bei mir wohlfühlte, wollte, dass es bei mir blieb, und beschenkte es verschwenderisch mit Girlanden und Arabesken.
    Da geschah etwas für mich Unfassbares, etwas, das bis heute mein Leben geprägt hat. Ich erzählte meine Rentnergeschichte zum ich weiß nicht wievielten Mal, diesmal einem Freund meines ältesten Bruders. Wie immer begann ich mit meinem Entschluss, den Schulweg zu verlassen, warf den unreifen Apfel, baute die Spannung auf, verirrte mich, kletterte über das Tor und entdeckte den in seinem Beet zusammengebrochenen Mann. Um mich nicht zu langweilen, erfand ich immer neue Einzelheiten und sagte schließlich: »Da sah ich, dass er einen Ring am Finger trug. Der sah richtig wertvoll aus. Kurz überlegte ich, vom Tor zu klettern und ihm den Ring vom Finger zu ziehen. Aber da klingelte die Schulglocke, und ich rannte davon.«
    Während ich das mit dem Ring erfand, schoss mir plötzlich ein heißer Schauer über den Rücken, und ich sah den Ring tatsächlich vor mir. Es stimmte! Ich hatte es gar nicht erfunden. Mein Toter trug einen goldenen Ehering an seiner leblosen linken Hand!
    Ich rief: »Das stimmt. Das stimmt ja wirklich! Er trug einen Ring!« Mein Bruder und sein Freund sahen mich verständnislos an. »Wie, was soll denn das heißen: das stimmt?« »Na, das mit dem Ring. Das stimmt wirklich!«
    Nie werde ich diesen Augenblick vergessen. Ich hatte etwas erfunden, das wahr war. Der ausgedachte Ring, der aus der Luft gegriffene Ring hatte den tatsächlichen Ring, den wahrhaftigen Ring, wieder zum Leben erweckt. Wie ein archäologisches Instrument hatte die Lüge ein eingeschlossenes Detail herausgekratzt und den Tiefen des Gedächtnisses wieder entrissen.
    Für mich war das eine unfassbar befreiende Erkenntnis: Erfinden heißt Erinnern.

Zuhause in der Psychiatrie
    Das Landeskrankenhaus für Kinder- und Jugendpsychiatrie, in dem ich aufgewachsen bin, hieß damals und heißt auch noch heute »Hesterberg«. Es ist das größte seiner Art in Schleswig-Holstein. Mein Vater war Kinder- und Jugendpsychiater, und als er dort Direktor wurde, gab es über eintausendfünfhundert Patienten. Gegründet wurde die Anstalt bereits 1817 von einem Herrn namens Dr. Suadicani, der sich mit der Bitte um den Bau einer Irrenanstalt »zur Rettung dieser unglücklichsten Menschen, deren Not zum Himmel schreit«, an den König gewandt hatte. Alle paar Jahre wurde sie umbenannt. Zuerst hieß sie »Provinzial-Irrenanstalt«, dann »Provinzial-Idiotenanstalt«, dann »Provinzial-Heil-und Pflegeanstalt für Geistesschwache«. Dann spezialisierte sie sich auf junge Menschen und nannte sich »Heil- und Erziehungsanstalt für blöd- und schwachsinnige Kinder« und schließlich, nach hundertfünfzig
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