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Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war: Roman. Alle Toten fliegen hoch, Teil 2 (German Edition)

Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war: Roman. Alle Toten fliegen hoch, Teil 2 (German Edition)

Titel: Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war: Roman. Alle Toten fliegen hoch, Teil 2 (German Edition)
Autoren: Joachim Meyerhoff
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Klumpen Draht ausgezeichnet erkennen konnte.
    Und dann war da natürlich noch Rudi, genannt Tarzan. Er kletterte gerne auf Bäume oder lag bewegungslos im Gras, auf der Lauer. Er trug stets einen sehr echt aussehenden Revolver bei sich, stürzte hervor, blitzschnell und lautlos, und hielt einem den Lauf an die Schläfe. Jeder, der ihn kannte, wusste, wie harmlos er war, machte ihm eine Freude und erschrak sich zu Tode. Tarzan liebte es, wenn man sich vor ihm auf die Knie fallen ließ und bettelte: »Bitte, bitte töte mich nicht!« Sein Kopf mit dem roten Haarbüschel war nicht viel breiter als ein Handteller.
    Ein penetrantes Mädchen, genannt Bine oder Trine. Sie war klein. Als ich zehn war, war ich schon größer als sie. Traf man sie, wurde man sie nicht mehr los, und sie begleitete einen bis zum Ausgang der Anstalt. Mit piepsiger Stimme stellte sie immer dieselben zwei Fragen: »Na, wer bist du?« und »Na, wen haben wir denn da?«. Wenn ich ihr meinen Namen sagte, lachte sie, drückte mir ihre prallen Brüste in die Rippen und widersprach: »Nee, nee, wer bist du?« Ich versuchte mich loszumachen, aber sie war stark. Klammerte sich an mich, roch streng und rieb sich an mir. Egal was man sagte, es war falsch: »Na, wer bist du?« Immer wieder. Mehrmals drängte sie mich gegen eine Mauer, ließ minutenlang nicht ab von mir. »Na, wen haben wir denn da?« Ich versuchte mich loszumachen. »Nee, nee, nee. Wer bist du?«
    Am Ausgang, Tor 2, spielte ein Patient Kontrolleur. Er trug eine Fantasieuniform, auf den Schultern des Jacketts angeklebte Epauletten aus Schaumstoff, das ganze himmelblaue Uniformjackett gespickt voll mit Kronkorken-Orden. Um die Hosenbeine hatte er bunte Gürtel geschnallt, deren Enden seitlich abstanden. Unter Höchstanstrengung wölbte er seine Brust, knallte seine Hacken zusammen, winkte Autos durch und fragte mich jeden Morgen: »Wohin soll’s denn gehen?« Ich sagte: »In die Schule.« Er salutierte, rief laut: »Ah, wieder ficki-ficki machen?«, und gab den Weg frei.
    Ich grüßte das Wachpersonal, dem ich gut bekannt war, die Schranke wurde geöffnet, und ich verließ das Gelände.
    An den beiden Toren und auch vor den Haupteingängen der Gebäude spielten sich oft dramatische Szenen ab. Entweder weigerten sich die frisch Eingelieferten, das Gelände bzw. die Gebäude zu betreten, klammerten sich an ihre Angehörigen und traten nach den Pflegern, oder aber Patienten wehrten sich mit Händen und Füßen, das Gelände bzw. die Gebäude zu verlassen, klammerten sich an die Pfleger und traten nach den Angehörigen. Sowohl der Weg in die Psychiatrie hinein wie auch der aus ihr heraus war für viele der blanke Horror.
    Natürlich gab es auch die Unscheinbaren, die deutlich in der Überzahl waren, in sich versunken herumsaßen, brabbelten oder rastlos auf dem Gelände herumtigerten. Es gab eine Station, etwas abseits gelegen, wo in einem Hinterhof mehrere Bänke standen. Dort saßen Patienten, die sich auf gespenstische Art ähnlich waren. Kahl rasierte Schädel mit dicklippigen Mündern, riesigen Nasen und melancholischen Augen mit vergrößerten Pupillen. Selbst die Ohrläppchen ihrer fleischigen Ohrmuscheln schienen geschwollen und schwer. Ihre Gesichter sahen farblos aus, wie mit einem zu weichen Bleistift gezeichnet. So kauerten sie auf den Bänken oder den Rückenlehnen, und wenn die Sonne unterging, kam es vor, dass das schräge Abendlicht blutrot durch ihre Segelohren drang. Mein ältester Bruder sagte zu mir: »Schau sie dir an, wie sie da hocken und glotzen. Bisschen unheimlich, oder? Die sehen alles, riechen alles, hören alles, die kriegen zehnmal mehr mit als wir und machen den ganzen Tag absolut nix!« Wir nannten den Ort »Hinterhof der traurigen Eulen«.
    Viele Patienten bekam man gar nicht zu Gesicht, da sie die Stationen nicht verlassen konnten oder durften. Sobald es das Wetter zuließ, es einmal nicht regnete, wurden die Kranken nach draußen geschoben, lagen, wenn es noch kalt war, bewegungslos mit Mützen in rollbaren Betten oder saßen in Decken eingeschlagen in Rollstühlen. Wobei die Rollstühle völlig unterschiedlich aussahen. Manche waren für winzige, verwachsene Kinder gebaut und konnten hydraulisch auf und nieder, vor und zurück gekippt werden. Andere hatten Kopfpolster, die links, rechts und von oben eng anlagen. Sogar unterm Kinn gab es einen Bügel. Die Köpfe waren wie gerahmt, lagen wie Masken in ihren Futteralen.
    Viele dieser schwer körperbehinderten
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