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Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war: Roman. Alle Toten fliegen hoch, Teil 2 (German Edition)

Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war: Roman. Alle Toten fliegen hoch, Teil 2 (German Edition)

Titel: Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war: Roman. Alle Toten fliegen hoch, Teil 2 (German Edition)
Autoren: Joachim Meyerhoff
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mit Kreide auf die Straße gemalt. Die magersüchtigen Mädchen mussten sich auf diese Weise, auf dem Boden liegend, ummalen, um zu sehen, dass es sie überhaupt noch gab. Worte mit dem L-Unten der magersüchtigen Mädchen waren zerbrechlich, vom Verschwinden bedroht. Auf Licht, Locken, Leder mit L-Unten musste ich gut aufpassen. Worte, die ich nicht mochte oder vor denen ich Angst hatte, verlegte ich in die jeweilige geschlossene Abteilung. Die durften dann nicht mehr raus. In der Schule hat das zu meinen ersten, mich dann ein Leben lang verfolgenden Tobsuchtsanfällen geführt. Keiner begriff, was ich in mein Heft, oder noch schlimmer, unter dem Gelächter aller, an die Tafel kritzelte. Meine Lehrerin befahl: »Schreib doch mal bitte: Die Katze hat Hunger.« Das sah dann so aus :

    Das war eine sehr böse Katze, die keinen Hunger hat. Die Lehrerin schüttelte den Kopf. Wie hätte ich mich um Groß- und Kleinschreibung, um Grammatik kümmern können? Es ging doch um etwas viel Offensichtlicheres, Schöneres. Es ging nicht um den Buchstaben als Zeichen, sondern um seine Identität, ja, sein Wesen, seinen Charakter.
    Tatsächlich wurde ich nach nur vier Monaten in der ersten Klasse zu meiner völligen Überraschung wieder nach Hause geschickt. Immer öfter war ich außer mir vor Zorn gewesen, »aus dem Nichts«, wie es hieß. Schon die kleinste Ungerechtigkeit trieb mich zur Verzweiflung. Mein mittlerer Bruder klopfte mir auf die Schulter: »Gleich in der ersten Klasse sitzen bleiben! Vor dir liegt eine große Zukunft!«
    Um diese schmerzliche Erfahrung zu keiner traumatischen zu machen, ersparten mir meine Eltern die Rückkehr in den Kindergarten. Ich durfte den Rest des Schuljahres zu Hause verbringen. Meine Mutter arbeitete an den Vormittagen als mobile Krankengymnastin, und ich begleitete sie auf ihren Fahrten übers Land. Während sie skeptischen Bauern mit Bandscheibenvorfällen richtiges Heben und Tragen von schweren Dingen wie zum Beispiel Düngemittelsäcken beibrachte, streunte ich umher. Oder ich spielte mit dem Spielzeug der fremden Kinder, die ja in der Schule waren. Bei der Reittherapie, die meine Mutter einmal die Woche gab, brachte sie mir in den Pausen ein paar Kunststücke auf dem Pferderücken bei. Hin und wieder nahm mich auch mein Vater mit, und dann durfte ich zusammen mit Schwerstbehinderten zur Schwimmtherapie, ließ mich mit dem Kran ins Wasser heben.
    Wenn unsere Putzfrau kam, die Frau Fick hieß, blieb ich zu Hause und genoss die Zeit ohne meine Brüder in deren Zimmern. Meinen früheren Freunden war ich als gescheiterter Erstklässler suspekt. Auch ich fühlte deutlich, dass uns Welten trennten. Und die, die ich noch aus dem Kindergarten kannte, wollte ich nie mehr wiedersehen.
    Dass unsere Putzfrau Frau Fick hieß, dass man so heißen konnte, dass man so tun sollte, als wäre das ein Allerweltsname, war eine Ungeheuerlichkeit für mich. Meine Brüder und ich schlossen Wetten ab. Man musste zu ihr gehen und sie, ohne hysterisch zu werden, mit ihrem Namen ansprechen: »Haben sie vielleicht meine Turnschuhe gesehen, Frau Fick?« Mein Vater machte da auch gerne mit, und seine drei Söhne lagen versteckt um die Ecke und bissen sich in die Handballen, während wir ihn sagen hörten: »Liebe Frau Fick, wenn Sie etwas brauchen, schreiben Sie es auf den Einkaufszettel. Einen schönen Tag, Frau Fick. Ach ja, Frau Fick, schöne Grüße an Herrn Fick!«
    Ihr Mann arbeitete in der Schleswiger Wetterstation, und jeden Freitag, wenn probehalber die Sirenen heulten, drückte er auf einen Knopf, das Dach der Station öffnete sich und hinaus flog ein Wetterballon, an dem ein silbernes Messgerät hing. Fünfzig Mark bekam man, wenn man es fand. Wie so viele andere Jungen der Kleinstadt bin auch ich auf dem Fahrrad diesem über unseren Köpfen entschwindenden Ballon über Stock und Stein hinterhergehetzt, abwechselnd den Blick nach oben, Kopf im Nacken, Blick nach unten, auf die Straße. Sackgassen, Holperwege oder die plötzliche Angst, sich zu verirren, die Grenze der Stadt zu weit hinter sich gelassen zu haben, beendeten die Jagd nach dem fliegenden, kleiner werdenden, in der Sonne funkelnden Schatz. Nie, nie habe ich ihn gefunden.
    Diese Stadt, in der ich nicht geboren, aber aufgewachsen bin, lag gleich hinter der Anstaltsmauer und war wesentlich unübersichtlicher als das ordentlich durchbuchstabierte Psychiatriegelände. Lange hatte ich geglaubt, die meterhohe rote Backsteinmauer sei ein Schutz, eine
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