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Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war: Roman. Alle Toten fliegen hoch, Teil 2 (German Edition)

Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war: Roman. Alle Toten fliegen hoch, Teil 2 (German Edition)

Titel: Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war: Roman. Alle Toten fliegen hoch, Teil 2 (German Edition)
Autoren: Joachim Meyerhoff
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ein Toter war.
    Noch heute wundere ich mich darüber, dass ich nicht im Geringsten erschrak und mich auf und davon machte. Im Gegenteil: Mit hoch gespannter Wissbegierde balancierte ich rutschend meinen Po auf dem Eisentor stückchenweise in seine Richtung. Jetzt konnte ich ihn noch besser sehen. Er war vollständig und, wie es mir vorkam, vornehm gekleidet. Ganz in Beige. Einer seiner hellbraunen sommerlichen Schuhe war ihm von der ebenfalls hellbraunen Socke gerutscht, sein Hemd steckte akkurat in der leichten Hose, und so einen geflochtenen Sommergürtel trug auch mein Vater hin und wieder. Seine Füße und Unterschenkel lagen auf der Wiese, der restliche Körper in den Blumen. Was es für Blumen waren, wusste ich nicht, aber sie waren prächtig und farbenfroh.
    Warum war ich mir so sicher, dass es ein Toter war? Warum zog ich es nicht den Bruchteil einer Sekunde in Betracht, Hilfe zu holen? Warum kam es mir so vor, als ob diese Leiche für mich bestimmt wäre und mir gehörte?
    Um seinen Oberkörper herum waren die Stängel geknickt, teilweise abgerissen, so als hätte er um sich geschlagen, sich im Todeskampf gewälzt, im Schmerz in die Pflanzen gegriffen. Er lag mit dem Gesicht nach unten, sein graues Haar war zerzaust. Ich konnte den Blick nicht abwenden, blieb auf meinem Aussichtstor sitzen und betrachtete ihn. Ich war hin- und hergerissen. Sollte ich mich zu ihm hinunterlassen, ins Blumenreich der Toten hinabsteigen oder doch auf der anderen Seite hinunterspringen – der Seite der Lebenden, der Autos, der Passanten und der unaufhaltsam fortschreitenden Schulstunde? Mein eines Bein hing über dem Garten, das andere über dem Gehweg. Ein Gedanke, erst noch etwas vage, verfestigte sich zu einer sensationellen Erkenntnis und bahnte sich schließlich seinen Weg über die Zunge zu den Lippen: »Ich hab einen Toten gefunden«, sagte ich leise, mehrmals und mit wachsender Begeisterung, »ich hab einen Toten gefunden.«
    Ich sprang vom Tor auf die Straßenseite und rannte zur Schule, stieß das Schultor auf, jagte die Treppen hoch, sprengte in meine Klasse und überbrachte laut jubilierend die frohe Botschaft: »ICH HAB EINEN TOTEN GEFUNDEN!!!!« Die Lehrerin und alle Schüler sahen mich an, als wäre der Heiland höchstpersönlich durch die Klassenzimmerdecke gebrochen. Was ist hier los? Sind die taub?, dachte ich, riss meine Arme in die Höhe, ballte die Fäuste zum Sieg und brüllte noch lauter als zuvor: »IIIIICH HAAAAAB EINEN TOOOOOTEN GEFUNDEN!!!!!«
    »Sag mal, was ist denn mit dir los«, fuhr mich da die Lehrerin mit einer mir völlig unverständlichen Gereiztheit an, »bist du noch zu retten? Hier so reinzuplatzen? Spinnst du?« Da überkam mich eine tief empfundene Nachsicht mit der Begriffsstutzigkeit meiner mich ungläubig beäugenden Mitschüler und mit den unpädagogisch entglittenen Gesichtszügen der Lehrerin. Ich durfte diese Menschen nicht überfordern. Siegessicher und betont langsam weihte ich sie in meinen Sensationsfund ein. »Bei den Schrebergärten liegt einer – das ist ein Toter. Den hab ich gefunden. Der – ist – tot!«, buchstabierte ich überdeutlich in all die offen stehenden Münder hinein. »Der liegt da zwischen den Blumen. Ein Mann. Ein Toter. Ich hab den gefunden. Ja, ich. Ich hab einen Toten gefunden!« »Setz dich mal auf deinen Platz.«
    Ich schlenzte mir den Schulranzen vom Rücken und ließ mich auf meinem Stuhl nieder. Mein Gott, wie niedrig die Tischplatte war. Meine Knie passten kaum unter die Ablage. Doch das wunderte mich nicht. Wer im Besitz eines Toten ist, macht einen Sprung nach vorn, der schießt in die Höhe, der dehnt sich aus und hat einen entscheidenden Vorsprung. Die Lehrerin erhob sich von ihrem Pult, welches mir so winzig und kümmerlich vorkam wie nie zuvor, trat auf mich zu, ging in die Hocke und sah mich ernst an. Noch oft im Leben sollte mir dieser Blick begegnen, dieser Blick, der einem unmissverständlich klarmacht: »Bis hierhin und nicht weiter. Das ist jetzt nicht mehr lustig.« Dieser Blick, der einen vor die Wahl stellt, sich als Münchhausen, als Lügenbaron aus der Gemeinschaft wahrheitsliebender und aufrichtiger Mitmenschen zu verabschieden und ein unrettbarer Hochstapler zu werden oder aber zu gestehen, zu bereuen und sich von allen Unwahrscheinlichkeiten mit Abscheu abzuwenden.
    Lange sah sie mich so an: »Also, was ist los? Sag die Wahrheit: Du hast was gefunden?« Ich schwieg. So, als ob mir ihre Stimme den Rückweg aus meiner Verirrung
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