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Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war: Roman. Alle Toten fliegen hoch, Teil 2 (German Edition)

Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war: Roman. Alle Toten fliegen hoch, Teil 2 (German Edition)

Titel: Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war: Roman. Alle Toten fliegen hoch, Teil 2 (German Edition)
Autoren: Joachim Meyerhoff
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einfach nicht. Ich hörte Schnaufen und Anfeuerungsrufe. Da sah ich unsere Lehrerin über den Schulhof rennen. Gleich würde das Spektakel beendet werden. Ich rief: »Ich will auch was sehen!« Keine Chance. »Mensch, lasst mich da durch! Ich will auch was sehen!« Wieder keinerlei Reaktion. Und dann schrie ich, ohne zu überlegen, so laut ich konnte: »Ich bin Arzt!« Der äußere Rand der Schaulustigen gab nach und ich bahnte mir einen Weg. »Lassen Sie mich durch. Ich bin Arzt!!« Es bildete sich ein Spalier, an dessen Ende ich endlich die sich brutal schlagenden Jungen sah. So schritt ich hinein ins Zentrum: ein siebenjähriger Arzt auf dem Weg zu seinem ersten Notfall.
    Da packte mich die Lehrerin im Nacken und schob mich zur Seite. »Wir sprechen uns später, verstanden?«, und sie stürzte sich wie ein beherzter Schiedsrichter zwischen die am Boden ineinander verkeilten Ringer.
    In der nächsten Pause musste ich zu ihr ins völlig verrauchte Lehrerzimmer kommen, mich an einen Tisch setzen und Rede und Antwort stehen. »Was hast du da gerufen?« »Ich weiß nicht mehr.« »Das weißt du ganz genau. Lüg mich nicht an.« Ich senkte, eher zum Zeichen denn aus Überzeugung, schuldbewusst mein lockiges Haupt. »Du wiederholst jetzt sofort, was du gerufen hast! Oder ich ruf deine Eltern an.« »Ich bin Arzt!« »Bist du verrückt geworden? Was soll denn das?« »Ich wollte sagen: Mein Vater ist Arzt.« »So ein Quatsch! Und warum?« »Ich wollte was sehen.« »Was gab es denn da zu sehen?« Die Lehrerin sprach mit mir wie mit einem Begriffsstutzigen, gedehnt, überdeutlich: »Du – bist – kein – Arzt!« Ich nickte. »Wer – ist – Arzt?« »Mein Vater!« Ich sprach direkt in einen Aschenbecher vor mir, und winzige Rußpartikel schwebten in die Höhe, während ich in ihn hinein beichtete. »Gut, geh jetzt.«
    Selbst noch in den verlassenen Gängen auf dem Weg zum Direktor spürte ich die heiße Hand der Lehrerin auf meinem Rücken. Der Direktor saß hinter einem monströsen Schreibtisch. Weder die Tür noch die Fenster seines Zimmers erschienen mir groß genug, um diesen Klotz hineinzubekommen. Die ganze Schule musste um diesen Schreibtisch herumgebaut worden sein. Sofort geriet ich ins Träumen, sah einen massiven Schreibtisch an einem Kran in der Luft schweben. Bauarbeiter rufen »Etwas höher! Etwas weiter links! So ist gut!« und positionieren das Riesenmöbel perfekt ins Nichts, während drum herum die Mauern meiner Schule hochgezogen werden.
    »Wo hast du ihn gefunden?« »Was?« »Wo hast du den Mann gefunden?« »Direkt oben beim Tor. Das ist aber zu. Dahinter liegt er im Garten.« »Bist du sicher?« »Ich glaube schon.« »Wie – du glaubst?« Er sah mich mit einem durchdringenden Blick an, einem richtigen Direktorenblick, der mir aber etwas stumpf vorkam, etwas verbraucht. Ich war mir sofort sicher, dass er exakt mit diesem Blick schon Hunderte, wenn nicht sogar Tausende Kinder anvisiert hatte.
    »Entweder du hast ihn gesehen, den Toten, oder nicht! Weißt du, ich hab in meiner Jugend viele Tote gesehen, deren Anblick vergisst man nicht so leicht.« Er sah mir tief in die Augen, aber doch irgendwie durch mich hindurch in eine andere Zeit. »Wenn die mit verdrehten Armen und Beinen gefroren im Schnee liegen, das ist kein schöner Anblick. Gegen die Kälte haben wir uns von den toten Russen die Jacken geklaut. Mir fehlen vier Zehen.« Der Direktor nahm seine Brille ab, und ich sah in seinem kahlen Schädel eine Furche, die der Bügel in die Haut gedrückt haben musste. Dieser Mann war mir zutiefst suspekt. In einer Vertretungsstunde hatte er sein Akkordeon mitgebracht, Volkslieder gesungen und schließlich geweint. Minutenlang heulte er vor der Klasse und zog das Akkordeon auf und zu, ohne dass es einen Ton von sich gab. Wie ein faltiges Tier rang das Instrument um Atem, hockte ihm röchelnd auf dem Schoß und verendete erst, als es klingelte.
    »Sag mal, hörst du mir überhaupt zu?« »Was? Ja sicher. Also, ich hab einen gesehen. Ganz sicher. In den Blumen.« »Sicher?« »Sicher.« »Gut!« Er nahm einen schon zu dieser Zeit altmodischen, pechschwarzen Riesentelefonhörer vom Riesentelefon. »Guten Tag. Schule Nord, Direktor Waldmann. Ich möchte etwas melden. Einer unserer Schüler hat in den Schrebergärten einen Toten gefunden.« Er hörte zu, sah mich an. »Wann war das?« »Um acht, eine Minute nach acht!«, gab ich, glücklich darüber, wenigstens dies genau zu wissen, zur Antwort. Er sagte
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