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Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war: Roman. Alle Toten fliegen hoch, Teil 2 (German Edition)

Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war: Roman. Alle Toten fliegen hoch, Teil 2 (German Edition)

Titel: Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war: Roman. Alle Toten fliegen hoch, Teil 2 (German Edition)
Autoren: Joachim Meyerhoff
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die Eingriffe so massiv ausgefallen waren, überraschte mich dann doch. Die insgesamt sicherlich drei Kilometer lange Anstaltsmauer ist genauso verschwunden wie die beiden Tore. Man kann jetzt direkt auf das Gelände fahren, und ein Ortsfremder wird den Übergang vom Stadtgebiet zum Anstaltsgelände kaum wahrnehmen. Haus C, D und M sind abgerissen worden, Haus K steht leer und bis zum oberen Stockwerk hinauf sind die Scheiben eingeschmissen worden. Eine Umgestaltung der düsteren Kästen nach heutigem Standard, nehme ich an, ist einfach zu kostspielig. Die später entstandenen Gebäude sind noch in Betrieb, doch ich konnte auf meinem Rundgang kaum etwas erkennen, da alle Zäune durch meterhohe blickdichte Palisaden ersetzt worden sind. Die noch vor den Haupteingängen stehenden Bänke waren verwaist, überhaupt war die gesamte Psychiatrie menschenleer, machte einen evakuierten, wenn nicht sogar geschlossenen Eindruck auf mich.
    Ich sah und hörte nichts. Die Gärtnerei, die Schlosserei und auch die anderen Werkstätten hatten mit großen Sperrholzplatten vernagelte Fenster. Der Fußballplatz lag frisch gemäht da. Sogar perfekte Kreidelinien waren auf das Gras gestäubt – danach hatten wir uns früher stets gesehnt. Strafraum, Mittellinie, sogar Elfmeterpunkt, alles da. Die neue Klinik bot einen traurigen Anblick. Die Rostflecken hatten die gesamte Fassade verunstaltet. Hinter den Scheiben, die alle ersetzt worden waren und mir eigentümlich klein und massiv vorkamen, dick wie aus dem Eis herausgestochene Fenster eines Iglus, sah ich dann tatsächlich ein paar Patienten. Wie die letzten Vertreter einer vom Untergang bedrohten Spezies liefen sie verschwommen hinter dem Panzerglas auf und ab.
    Obwohl mir vollkommen klar war, dass der frühere Zustand der Anstalt ein unhaltbarer war, dass die Überfüllung und Gepferchtheit der Patienten grauenhaft war, dass die medizinische Versorgung sicherlich unzureichend und der massenhafte Einsatz von ruhigstellenden Psychopharmaka eine unverzeihliche Selbstverständlichkeit war, obwohl mir klar war, dass den letzten verbliebenen Patienten – später erfuhr ich, dass es noch knapp dreihundert waren – sicherlich ein weitaus fachgerechteres und menschenwürdigeres Umfeld geboten wurde, obwohl mir das alles klar war, war mir der Hesterberg noch nie so trostlos, so – ja, ich kann es nicht anders sagen –, so beschissen hoffnungslos vorgekommen wie an diesem Tag.
    Konnte das sein? Dass es für alle besser geworden war außer für mich? Da wurde mir klar, dass ich den Verlust einer Welt betrauerte, an deren Verschwinden nichts Trauriges war. Meine Sentimentalität galt einem weltabgewandten, höllischen Ort. Gott sei Dank war diese überfüllte Anstalt verschwunden!
    Aber ich sehnte mich mit jeder Faser meines Körpers nach ihr: nach der ungefilterten Freude, den zu langen Umarmungen, dem tobenden Zorn.
    Ich sehnte mich nach der Maßlosigkeit, dem Spektakel, der mir selbstverständlichen Normalität dieses Wahnsinns-Orts.
    Ich sehnte mich nach der – wie soll ich es nur nennen –, ja, der Deutlichkeit dieser Menschen. Einer Deutlichkeit, in die so viele der Patienten schicksalhaft eingekerkert waren.
    Und vor allem sehnte ich mich nach diesem tausendfachen Gebrüll der Kranken des Nachts, das mich so herrlich schlafen ließ.
    Ich kam zu unserem Haus, das tatsächlich – davon hatte mir meine Mutter zuvor erzählt, ich war also vorgewarnt – eine Station geworden war: betreutes Wohnen. Ich sah die Haustür. Darüber ein Schild: Haus S. In der Tür entdeckte ich trotz mehrmaliger Übermalung Rillen, die unser Hund dort durch jahrelanges Kratzen hinterlassen hatte, wenn er hineinwollte.
    Ich ging am Zaun entlang um das Haus herum und kam zu den nebeneinandergelegenen Kinderzimmern mit ihren Fenstern und meiner Terrassentür. Ein weiß nebeliger Fleck pulsierte im Glas der Türscheibe, wurde kleiner und größer. Hinter diesem Dunstfleck nahm ich undeutlich die Konturen eines Gesichtes wahr. Wie eine pulsierende Qualle schwamm der Fleck im Glas, schrumpfte und wuchs.
    Hinter meiner Terrassentür, in meinem Kinderzimmer, saß jemand auf dem Boden und hauchte seinen Atem gegen das Fenster.
    Ich kletterte über den Zaun und ging näher heran. Der Boden, den ich betrat, fühlte sich vertraut und verboten an.
    Und das war, was ich fand: Ein Junge, nicht älter als sieben, lehnte mit der Stirn erschöpft an der Scheibe, seine geöffneten Augen starrten nach draußen. Er blickte durch
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