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Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war: Roman. Alle Toten fliegen hoch, Teil 2 (German Edition)

Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war: Roman. Alle Toten fliegen hoch, Teil 2 (German Edition)

Titel: Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war: Roman. Alle Toten fliegen hoch, Teil 2 (German Edition)
Autoren: Joachim Meyerhoff
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herum. Geschickt wurde der Ballen gewendet und gedreht und in surrendem Tempo weiter eingesponnen. Erst sah der Heuballen noch aus wie bandagiert, doch die Bahnen verkleinerten zügig seine Oberfläche. Mir drückte der Anblick ein wenig auf die Brust, da es mir so vorkam, als würden die Bahnen viel zu eng um die Heukugel herumgezogen, sie einschnüren, so als bräuchte das Gebilde mehr Luft. Die Greifarme sponnen und sponnen, es drehte sich der Ballen, bis auch das letzte Grün des Heus verschwunden war.
    Doch selbst dann schien es noch nicht genug. Weiter und weiter surrten die weißen Plastikbahnen um die Kugel herum. Das wird keine Hülle, dachte ich von meinem Beobachtungspunkt aus, das wird auch keine Verpackung, das wird eine Schale, ein gepanzertes Riesenei. Da verlangsamten sich die Greifarme, bremsten zurück in die Sichtbarkeit und zogen sich zurück ins Innere der Apparatur. Einen Moment lang drehte sich das Ei um sich selbst und verknotete so die drei Kunststoffbahnen zu einem kompakten Seil. Aus einer Öffnung heraus fuhr eine Sichel, hackte in einer selbst aus der Distanz übertrieben wirkenden Rohheit in den Plastikstrang und durchtrennte die Nabelschnur. Das Ei fuhr in die Höhe, wurde nach vorne geschoben und plumpste auf die Wiese.
    Wir waren so fasziniert von diesem Vorgang, dass wir am Zaun stehen blieben und uns auch die nächste Heuballengeburt, Verpuppung und Eiablage ansahen. Doch auch danach stiegen wir nicht ins Auto. Als es dämmerte und im Kopf der Maschine Scheinwerfer aufflammten, standen wir immer noch dort. Nachdem das letzte Ei herausgefallen war, umkurvte die Maschine wie eine besorgte Riesenmutter ihr Gelege, stupste da und dort noch einen Ballen zurecht. Oben in einem winzigen Glashäuschen saß im käsigen Licht wie ein blasses Gehirn der Fahrer, völlig bewegungslos. Mein Vater hatte mir den Arm um die Schulter gelegt. Wir zählten die Ballen. Es waren vierundzwanzig. »Genau dein Alter«, sagte er und stieg ein.
    Später an diesem Abend, wir saßen vor dem Fernseher, klingelte das Telefon und mein Vater sprang, so gut er konnte, auf, meldete sich förmlich mit »Ja bitte?«, wechselte stimmlich zu einem sehnsuchtsvollen »Hallo, na« und verschwand kabelzerrend im Nebenraum. Sosehr ich auch versuchte, nur dem Fernseher zuzuhören, vernahm ich durch die Tür vereinzelte Gesprächsbrocken. Ich hörte ihn »Ja, das ist so schön, dass er da ist« und »Ja, wir waren essen« sagen und dann noch »Ich dich auch« und noch mal »Ja, ich dich auch!«.
    Als er wieder zu mir kam, sah er sterbensunglücklich aus. Er setzte sich und atmete schwer, weit oben, legte sich die Hand auf das Brustbein und klopfte sich leicht. Mir kam es so vor, als ob er jeden Moment Dinge sagen würde, die er mir noch nie gesagt hatte. Ich starrte auf die Mattscheibe und wartete, wartete so sehr, dass er sein Schweigen brechen würde. Ich wollte kein Geständnis, keine Entschuldigungen, keine Erklärungen, ich wollte ganz einfach nur – ja, was eigentlich? – vielleicht ein paar Sätze, die unserer Vertrautheit entsprochen hätten, einen von aller Ironie und Vater-Sohn-Ritualen gereinigten, ungetrübten Moment. Doch er schwieg.
    Aber am selben Abend kam er dann doch noch, dieser Moment. Federleicht und unangestrengt, elegant, sprach er alles einfach aus.
    Er ging früher zu Bett als ich. Ich besuchte ihn im Schlafzimmer, wo noch immer beide Ehebetten nebeneinanderstanden.
    »Gute Nacht, Papa. Schlaf gut.« Übermütig warf ich mich auf das verwaiste Bett meiner Mutter. Mein Vater ließ sein Buch sinken. Wie es seine Angewohnheit war, lutschte er hin und wieder vorm Einschlafen einen Lolli. Keine Ahnung, wann er sich das angewöhnt hatte. Früher hatte ich ihm diese Lollis besorgt. Wer machte das jetzt? Mein ältester Bruder nannte ihn, wenn er so im Bett lag, Kojak. Er legte mir seine Hand auf die Schulter. Mein Gott, wie warm diese Hände waren. Selbst im tiefsten Winter nach zwei Stunden Nordseewanderung mit Eissturm waren diese Hände so warm wie im Hochsommer, und meine Brüder und ich stritten oft auf Spaziergängen, wer sich in der Hand meines Vaters seine Eisklumpenfinger wärmen durfte.
    Ohne mich direkt anzusehen, fing er zu reden an: »Ich freu mich so, mein Josse, dass du mich besuchst. Es tut mir leid, wenn ich nicht so gesprächig bin, aber es ist schon alles eine riesige Scheiße gerade. Dass ich nicht mehr arbeiten kann, das macht mich so unendlich traurig. Hab das immer so gerne gemacht. Ich
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