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Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war: Roman. Alle Toten fliegen hoch, Teil 2 (German Edition)

Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war: Roman. Alle Toten fliegen hoch, Teil 2 (German Edition)

Titel: Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war: Roman. Alle Toten fliegen hoch, Teil 2 (German Edition)
Autoren: Joachim Meyerhoff
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nächstangrenzende Organ um. Immer wenn mein Vater sich unter Aufwendung der letzten Kräfte mit einem weiteren Schmerzherd arrangiert hatte, überraschte ihn ein neuer, noch heftigerer Schmerz. Und immer waren die letzten Kräfte noch nicht die wirklich letzten Kräfte. Immer wieder dachte mein Vater: »So, dieser Schmerz ist nun nicht mehr zu steigern, und ich werde mit letzter Kraft versuchen, ihm standzuhalten.« Doch dann kam eben immer wieder ein neuer Schmerz, und es kamen auch immer wieder neue letzte Kräfte. Immer wieder war der katastrophale Zustand von vor zwei Wochen im Nachhinein ein paradiesischer.
    In seinem Körper strahlte der Schmerz vom Schmerzzentrum in die angrenzenden Organe und Knochen, strahlte über sie hinaus in das Krankenzimmer, ja in unser ganzes Haus. Ich lag in meinem ehemaligen Kinderzimmer und der Schmerz meines Vaters strahlte durch die Wände, sodass auch ich nicht mehr wusste, wie ich liegen sollte.
    Der Todeshauch meines Vaters war ein erfrischender. Er sagte: »Ich habe immer so einen widerlichen Geschmack im Mund. Als hätte ich was Verfaultes gegessen.« Um diesen Geschmack zu besiegen, lutschte er ununterbrochen Bonbons. Doch nichts half. Erst das Schlucken von Unmengen von Mentholkapseln, die eigentlich Husten lockern sollten, vertrieb den fauligen Dauergeschmack. Wenn man ihm jetzt nahe kam, tränten einem die Augen, so einen scharfen, kalten Hauch verströmte er.
    Oft lag er einfach da, den Kopf in die Kissen gesunken, der schlecht rasierte Kehlkopf zeichnete sich knorpelig durch die schlaffe Halshaut ab, sich selbst darbietend, bereit, sich von etwas Großem, Übermächtigem fressen zu lassen.
    Mein Vater musste sich Tag und Nacht um seinen Schmerz kümmern. Er versuchte zu lesen, doch der Schmerz wurde zornig, wenn sich mein Vater etwas anderem widmete.
    Dann kam das Morphium, mit dem er viel zu spät begann. Da war der Schmerz schon so verwildert, dass er sich nur noch durch enorme Mengen Morphium bändigen ließ. Mein Vater spritzte es sich selbst in seinen aufgedunsenen Bauch. Will man den Schmerz wirklich lindern und in den Griff bekommen, muss man den heranwachsenden Schmerz von klein auf mit Morphium füttern. Denn tatsächlich ist der erst spät durch Morphium gedämpfte Schmerz viel aggressiver als der gleich beim ersten Aufflackern bezwungene. Die Morphiumdosen, die sich mein Vater spritzte, wären für einen Gesunden tödlich gewesen. Und der eigentlich unsichtbare Schmerz wurde durch den messbaren Heißhunger nach Morphium sichtbar.
    Der tatsächlich letzte und nicht mehr überbietbare Schmerzendpunkt war erreicht, als sich seine Krankheit in die Wirbelsäule, durch die Bandscheiben hindurch ins Rückenmark fraß. Es war eine warme Nacht, und er schrie und schrie, und auch die Patienten der Psychiatrie schrien. Ich lag in meinem Zimmer. Mit dem Kopf am Kopfende, mit den Füßen am Fußende und zusammengebissenen Zähnen. Hörte die Schreie der Patienten, die die warme Nacht erfüllten, und die Schreie meines Vaters, die durch unser Haus gellten. Immer wieder setzte ich mich zu ihm. Doch schon nach zehn Minuten war ich so erschüttert von seinem Leid, so erschlagen von seinem Anblick, so durchdrungen von seinem Schmerz, dass ich wieder in mein Zimmer ging.
    Von den unvorstellbar hohen Morphiumdosen fing er zu halluzinieren an. Redete Unsinn, schrie: »Die einzige Badewanne, die etwas taugt, ist die von Kaldewei!« Immer wieder: »Die einzige Badewanne, die etwas taugt, ist die von Kaldewei!«
    Der Schmerz gab ihm keine Pause mehr. Hetzte ihn. Als ich am Morgen aufwachte, war es still im Haus. Ich lief hinunter. Meine Mutter lag zusammengesunken im Sessel meines Vaters. Er lag tot in seinem Bett. Ich stöhnte auf, und meine Mutter sah mich an. »Ist er tot?«, fragte ich. »Nein, ist er nicht!«, antwortete sie. Sie flüsterte wie im Zimmer eines schlafenden Kindes. »Es war eine so schreckliche Nacht. Erst konnte er die Füße nicht mehr bewegen. Dann seine Beine nicht mehr. Er hat so geschrien. Hat gebrüllt: ›Oh Gott, lieber Gott, was ist das? Was ist das? Ich verbrenne. Meine Füße verbrennen!‹ Er hat so geschwitzt. Die Hitze ist ganz langsam an ihm hochgekrochen. Bis zu seiner schlimmen Stelle im Rücken. Ich habe versucht, ihn zu beruhigen. ›Ich verbrenne!‹ Dabei hat er sich auf die Beine geschlagen. Und plötzlich hat er mein Gesicht genommen. Ich dachte: Jetzt stirbt er. Er hatte weit aufgerissene Augen. So eine Angst. Hat mich angestarrt. Und
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