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Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war: Roman. Alle Toten fliegen hoch, Teil 2 (German Edition)

Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war: Roman. Alle Toten fliegen hoch, Teil 2 (German Edition)

Titel: Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war: Roman. Alle Toten fliegen hoch, Teil 2 (German Edition)
Autoren: Joachim Meyerhoff
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immer Blumen auf dem Grab, von denen meine Mutter nicht weiß, woher sie kommen.
    In der Immobilienfirma zeigten wir die Sterbeurkunde meines Vaters und kündigten den Dauerauftrag. Die Wohnung hatte eine Kündigungsfrist von drei Monaten. Wir bekamen die Adresse und fuhren los. Wir waren eher still. Mein Bruder sagte nur einmal: »Na, was das wohl jetzt gibt.« Die Wohnung lag direkt an der Kieler Förde in einem Hochhaus. Wir fanden eine Klingel, neben der H.   M. stand. Die Initialen meines Vaters. Mein Bruder klingelte. Wir warteten. Da erst wurde mir klar, dass ja vielleicht jemand in der Wohnung sein könnte. Nichts.
    Der Schlüssel passte. Mein Bruder fand den ebenfalls mit H.   M. beschrifteten Briefkasten. Dafür hatten wir keinen Schlüssel. Aber mein Bruder öffnete den Briefkastenschlitz. »Hmmm«, machte er, mehr nicht. Wir fuhren mit dem teppichausgelegten Fahrstuhl in den neunten Stock. Auf jedem Flur waren fünf Wohnungen. Auch hier stand der Name meines Vaters abgekürzt gleich an der ersten Tür. Mein Bruder klopfte an. Wieder nichts.
    Und dann schloss er die Tür auf. Das Erste, was ich sah, noch im Schein des Flurlichts, war ein Mantel mit Pelzkragen an der Garderobe. Wir fanden den Lichtschalter nicht. Durch große Fenster sahen wir über die Stadt, das Wasser, gelbes Hafenlicht.
    »Nicht schlecht«, sagte mein Bruder und knipste endlich das Licht an. Wir standen mitten in einem geräumigen, sehr modernen Appartement. An einer Wand hingen fünf große, gerahmte Schwarz-Weiß-Fotografien. Eine Frau um die dreißig. Die Unterschiede zwischen den Fotos waren minimal. Die Bildfolge begann oben: Sie dreht den Kopf ein Mal durch das Bild, doch nur auf dem mittleren Foto sieht sie den Betrachter an. Die Frau hatte schwarzes Haar und sah sehr schmal aus.
    Wir sahen uns in der Wohnung um. Auf dem Nachttisch stand noch ein Foto mit derselben dunkelhaarigen Frau. Mein Vater sitzt neben ihr und noch ein paar anderen Menschen auf einer Terrasse. Er sieht glücklich aus, gelöst. Lacht. Im Hintergrund sieht man Zypressen und eine sanft geschwungene Hügelkette. Er hat einen sommerlichen Anzug an, den ich nicht kenne, und in der Hand hält er ein Cocktailglas mit einer Orangenscheibe auf dem Glasrand.
    Ich hatte meinen Vater noch nie einen Cocktail trinken gesehen. Der Schrank war voller Anziehsachen. Auch der helle Anzug vom Foto war dabei. In einer Schublade fanden wir Wäsche. Obwohl es sauber war, merkte man, dass schon lange niemand mehr hier gewesen war. Es gab eine Stereoanlage. Mein Bruder sah sich die Platten an und legte eine auf. Wir setzten uns in die teuren Ledersessel, unterhielten uns und tranken Whiskey. Dann stand mein Bruder plötzlich auf und fing einfach an zu tanzen. Ich sah ihm dabei zu, und dann tanzte ich auch. Wir tanzten beide in dieser Wohnung und aus dem Kieler Hafen lief eine riesige Fähre aus, festlich beleuchtet.
    Es kommt mir mehr und mehr so vor, als wäre die Vergangenheit ein noch viel ungesicherterer, weniger verbürgter Ort als die Zukunft. Das, was hinter mir liegt, soll das Gesicherte sein, das Abgeschlossene, das Gewesene, das nur darauf wartet, erzählt zu werden, und das vor mir soll die sogenannte zu gestaltende Zukunft sein?
    Was, wenn ich auch meine Vergangenheit gestalten muss? Was, wenn nur aus einer durchdrungenen, gestalteten Vergangenheit so etwas wie eine offene Zukunft entstehen kann? Es ist ein bedrückender Gedanke, aber hin und wieder kommt mir das Leben, das noch vor mir liegt, wie eine für mich maßgeschneiderte, unumgänglich zu absolvierende Wegstrecke vor, eine Linie, auf der ich vorsichtig bis zum Ende balancieren werde.
    Ja, daran glaube ich: Erst wenn ich es geschafft haben werde, all diese abgelegten Erinnerungs-Päckchen wieder aufzuschnüren und auszupacken, erst wenn ich mich traue, die scheinbare Verlässlichkeit der Vergangenheit aufzugeben, sie als Chaos anzunehmen, sie als Chaos zu gestalten, sie auszuschmücken, sie zu feiern, erst wenn alle meine Toten wieder lebendig werden, vertraut, aber eben auch viel fremder, eigenständiger, als ich mir das jemals eingestanden habe, erst dann werde ich Entscheidungen treffen können, wird die Zukunft ihr ewiges Versprechen einlösen und ungewiss sein, wird sich die Linie zu einer Fläche weiten.
    Nach einem Sommerurlaub im Norden machte ich einen Ausflug nach Schleswig, um mir nach all den Jahren das Gelände der Psychiatrie wieder einmal anzusehen. Ich hatte von Stilllegungen gehört, aber dass
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