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Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war: Roman. Alle Toten fliegen hoch, Teil 2 (German Edition)

Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war: Roman. Alle Toten fliegen hoch, Teil 2 (German Edition)

Titel: Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war: Roman. Alle Toten fliegen hoch, Teil 2 (German Edition)
Autoren: Joachim Meyerhoff
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Bis hierhin und nicht weiter
    Mein erster Toter war ein Rentner.
    Lange bevor in meiner Familie ein Unfall, eine Krankheit und Altersschwäche die nächsten geliebten Menschen verschwinden ließen, lange bevor ich hinnehmen musste, dass der eigene Bruder, der zu junge Vater, die Großeltern, ja selbst der Kindheits-Hund nicht unsterblich waren, und lange bevor ich in ein zwanghaftes Dauergespräch mit meinen Gestorbenen geriet – so heiter, so verzweifelt –, fand ich eines Morgens einen toten Rentner.
    Ich war eine Woche zuvor sieben Jahre alt geworden und hatte diesem Geburtstag entgegengefiebert, da ich durch ihn endlich das Recht erwarb, den Schulweg allein zurückzulegen. Von einem Tag auf den anderen durfte ich nun stehen bleiben und weitergehen, wann immer ich es wollte. Das Gelände der Psychiatrie, in der ich aufwuchs, und auch die außerhalb der Anstaltsmauern liegenden Gärten, Häuser, Straßen und Gebüsche waren wie verändert, und ich entdeckte lauter Dinge, die mir in Begleitung meiner Mutter oder meiner Brüder noch nie aufgefallen waren. Ich machte etwas größere Schritte und kam mir unglaublich erwachsen vor. Dadurch, dass ich ein Einzelner war, vereinzelten sich auch die Dinge um mich herum. Gegenüberstellungen auf Augenhöhe: Die Kreuzung und ich. Der Kiosk und ich. Die Schrottplatz-Mauer und ich.
    Wie viele Entscheidungen ich plötzlich selbst treffen durfte, überraschte mich. An der Hand meiner Mutter hatte ich meist vor mich hin geträumt oder mit ihr geredet und mich, nie auf den Weg achtend, zur Schule bringen lassen wie einen Brief zum Postkasten.
    Die erste Woche lang war ich brav, wie ich es hoch und heilig versprochen hatte, den verabredeten Weg gegangen – den Weg, in den mich meine Mutter mit allem Nach-links- und Nach-rechts- und wieder Nach-links-Gucken eingewiesen hatte, doch am darauffolgenden Montag beschloss ich, einen kleinen Umweg durch die Schrebergartensiedlung zu nehmen. Ich stieß ein grün vergittertes Tor auf und spazierte einen Pfad zwischen Miniaturanwesen, Bäumchen und Gemüsebeeten entlang. Ganz wohl war mir dabei nicht, da mein Vater mir das Betreten der Schrebergartensiedlung sogar ausdrücklich verboten hatte. »Das kommt öfter vor, dass sich in solchen Hütten irgendwelche Typen verstecken!«, hatte er mich gewarnt, »geh da bitte nicht lang. Abgemacht?« »Klar Papa, abgemacht!«
    Ich pflückte mir einen unreifen Apfel, biss hinein, spuckte das saure Stückchen geschickt durch zwei Zaunlatten und schleuderte ihn so weit ich konnte über die Dächer. Ich wartete auf ein Geräusch, aber es blieb vollkommen still, so als hätte ich den Apfel direkt in die Schwerelosigkeit gepfeffert. Ich spuckte ein paar Mal aus und ging weiter. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass die Schrebergartensiedlung so groß und unübersichtlich sein würde. An jeder Abzweigung hielt ich mich rechts und hoffte, so zu einem Tor zu gelangen, das ich genau kannte und von dem aus es nur noch ein paar Hundert Meter bis zu meiner Schule waren.
    Ich sah auf meine neue Armbanduhr, die ich zum Geburtstag bekommen hatte, ohne sie mir gewünscht zu haben. Aber die Uhr war die Bedingung meiner neuen Selbstständigkeit. Schon fünf Minuten vor acht. Jetzt musste ich mich wirklich beeilen. Ich kam zu einem Gartenzaun, an dem ich schon einmal vorbeigekommen war, und ging schneller. Alle Wege sahen gleich aus, und ich versuchte, die Beklommenheit, die in mir aufstieg, zu ignorieren. Die verschlungene Lieblichkeit der eben noch aus frühmorgendlicher Ruhe erwachenden Schrebergarten-Siedlung war genauso dahin wie meine gerade erst geweckte Lust, sie ganz auf mich gestellt zu durchstreifen. Da hörte ich weit entfernt, aber deutlich die Schulglocke zur ersten Stunde klingeln. Ich rannte los. Der Schulranzen polterte so heftig gegen meinen Rücken, als würde mich ein übellauniger Kutscher antreiben.
    Endlich kam ich auf eine lange Gerade, an deren Ende ich das gesuchte Tor sah. Als ich es erreichte, war es verschlossen, aber dahinter erkannte ich meinen Schulweg. Ich sprang in die Höhe und hielt mich an der Oberkante des Tores fest. Da das Gitter engmaschig war, rutschten meine Schuhspitzen immer wieder ab, und erst als ich meine Füße flach dagegendrückte, gelang es mir, ganz hinaufzuklettern. Ich schwang ein Bein auf die andere Seite, wollte das andere gerade nachziehen und hinunterspringen, als ich direkt im Garten links unter mir im Blumenbeet einen Mann liegen sah. Ich wusste sofort, dass es
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