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Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war: Roman. Alle Toten fliegen hoch, Teil 2 (German Edition)

Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war: Roman. Alle Toten fliegen hoch, Teil 2 (German Edition)

Titel: Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war: Roman. Alle Toten fliegen hoch, Teil 2 (German Edition)
Autoren: Joachim Meyerhoff
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Jahren, »Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie Hesterberg«.
    Es wohnten allerdings auch viele ältere und sogar sehr alte Patienten in der Klinik, die niemals in die Erwachsenen-Psychiatrie verlegt wurden, da ihnen das Verlassen ihrer meist schon seit dem Kleinkindalter vertrauten Umgebung nicht zuzumuten war.
    Bis auf eine kurz vor der Einweihung stehende moderne Klinik stammten die Gebäude aus der Zeit der Jahrhundertwende. Riesige düstere Backsteinkästen, in denen bis zu zwanzig Patienten in einem Zimmer schliefen. Lange Leitern standen an den vierstöckigen Hochbetten. Die oberen Betten konnte man verriegeln, es waren eher kleine Käfige als Betten, damit die Patienten nicht herausfielen.
    Das Gelände der Psychiatrie war groß und eine Welt für sich. Es gab eine Gärtnerei, eine Großküche, eine Tischlerei, eine Schneiderei, eine sogenannte Dampfwaschanstalt, sogar ein eigenes Kohleheizwerk mit rot gemauertem Schornstein und eine Schlosserei, in der fast ausschließlich Gitter geschweißt wurden: Fenstergitter, Gitterbetten, meterhohe Umzäunungsgitter für die Stationsgärten. An einigen dieser Orte arbeiteten Patienten in einer Mischung aus Arbeitstherapie und Ausbeutung.
    Unser Haus war der Mittelpunkt dieser Anlage. Die Direktorenvilla war vom Gründer der Psychiatrie ganz bewusst im Zentrum platziert worden. Der prunkvolle Bau war gleichermaßen eine Machtdemonstration wie auch ein Bekenntnis, als Direktor nicht außerhalb dieser Welt zu stehen. So bin ich aufgewachsen. Inmitten von eintausendfünfhundert psychisch Kranken, geistig und körperlich Behinderten. Meine Brüder und ich gaben den Patienten die unterschiedlichsten Namen. Wir nannten sie knallhart Idioten, Irre oder Verrückte. Aber auch die Dödies, die Blödies, die Tossen, Spaddel, Spackos und Spasties. Oder die Psychos, Mongos, die Deppen, Debilen und Trottel – der Favorit meines ältesten Bruders war: die Hirnies. Sie so zu nennen war für uns vollkommen normal. Selbst meine Eltern benutzten hin und wieder, wenn wir unter uns waren, einen dieser Ausdrücke.
    Die Hälfte meines Schulweges führte mich jeden Morgen durch die Psychiatrie, und ich traf dort auf die immer selben Patienten. Gleich auf der ersten Bank, wenn ich unseren Vorgarten durch ein Törchen verlassen hatte, saß ein Junge, der nichts lieber tat, als Zigaretten mit einem einzigen Zug niederzurauchen. Er wartete dort auf meinen Vater, der ihm oft eine seiner Roth-Händle gab. Der Junge hechelte, stieß alle Luft aus, steckte sich die Zigarette in den Mund, zündete sie an und zog und zog. Ein einziger Zug – und die ganze Zigarette brannte ab! Dann spuckte er den Stummel zu den anderen vor die Bank, atmete langsam aus – so viel Rauch! – und saß da, in Schwaden gehüllt, mit glücklich vernebelten Augen.
    Dann, auf der nächsten Bank, ein anderer Junge: Thorsten, der immer fragte: »Haste Parfüms? Haste Parfüms? Haste Parfüms?« Er schürzte oft unvermittelt die Lippen, machte ein ganz spitzes Kussmündchen und pustete. Blies seine Fingerkuppen an oder Fussel vom Ärmel. Wenn im Frühjahr die wolligen Fäden der Balsampappeln auf den Psychiatriebänken lagen, blies er tagelang die Bankbretter und Lehnen sauber. Von mir hat er einmal eine ganze Flasche »Lagerfeld« bekommen, angepustet, aufgeschraubt und einfach ausgetrunken.
    Ein paar Meter weiter, um die nächste Häuserecke herum, begegnete ich oft einem Mädchen. Wenn sie es schaffte, sich ihren Schutzhelm herunterzuzerren, schlug sie sich die Stirn auf, um mit ihrem blutenden Kopf Sonnen, Sterne und Monde auf die Straße zu malen. Das habe ich oft gesehen, diese eingetrockneten Blutsterne auf dem Asphalt.
    Im Sommer lag in einem der vielen hoch umzäunten Gärten hin und wieder ein Junge auf der Wiese. Nah am Zaun. Er hatte keine Augen. Stirn, Nase und Wangenknochen waren zu einer geschlossenen Fläche verwachsen. Auf diese von Narben durchzogene Haut waren mit einem schwarzen Filzstift Augen aufgemalt. Zwei Kreise mit Pupillenpunkt. Wie mir mein Vater erzählte, war dies sein eigener Wunsch, um sich für den Garten schön zu machen.
    Dann gab es noch einen in sich gekehrten Mann, der spazieren ging, immer freundlich war und eine kalte Pfeife rauchte. Er hieß Egon. Mein Vater warnte mich vor ihm, da er gerne Drahtkleiderbügel zusammenbog und sie anderen in den Hintern steckte. Für ein paar Tage hing an unserem Küchenfenster eine Röntgenaufnahme, auf der man im Grau durchleuchteter Organe einen
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