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Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war: Roman. Alle Toten fliegen hoch, Teil 2 (German Edition)

Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war: Roman. Alle Toten fliegen hoch, Teil 2 (German Edition)

Titel: Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war: Roman. Alle Toten fliegen hoch, Teil 2 (German Edition)
Autoren: Joachim Meyerhoff
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niemand. Alkohol war auf dem gesamten Anstaltsgelände strengstens verboten, und nie habe ich einen Patienten mit einer Bierdose gesehen, aber Nikotin schien eine von höchster Stelle und ohne Altersbeschränkung freigegebene Droge zu sein. Auch die Pfleger, Schwestern, Ärzte, Psychologen und Therapeuten, alle rauchten und alle verteilten großzügig Zigaretten an die bettelnden Patienten. Das wenige, was die Insassen sich verdienten, gaben sie für Zigaretten aus.
    Doch vor und höchstwahrscheinlich auch in keiner anderen Station wurde so obsessiv geraucht wie bei den Manisch-Depressiven. Sie qualmten die Zigaretten stets bis zu ihren rußgelben Fingerspitzen hinunter. Sie fraßen den Rauch in sich hinein, als wäre er ihre Rettung. Der Weg zum Haupteingang dieser Station war dicht bestreut mit Zigarettenstummeln, links und rechts davon, vor den Bänken lagen maulwurfshaufengroße Filter- und Stummelhügelchen. An einer Wand des Gebäudes waren über Jahre hinweg Zigaretten ausgedrückt worden. Tausende Aschepunkte besprenkelten sie, und wenn ich meine Augen etwas unscharf stellte, sahen diese schwarzen Flecken wie winzige Einschusslöcher oder Eingänge in einen gigantischen Termitenhügel aus.
    Nie wieder habe ich unter freiem Himmel Menschen auf so engem Raum so exzessiv sich eine Zigarette nach der anderen anzünden sehen wie bei den Manisch-Depressiven. Mir kam es so vor, als wären sie Mitglieder einer Sekte mit gespenstischen Ritualen. Plötzlich rauchten alle synchron: Dreißig Depressive ziehen gemeinsam, inhalieren gemeinsam, stoßen den Rauch gemeinsam aus und lassen alle gemeinsam für kaum länger als eine Sekunde die Zigaretten sinken. Die Frauen unter ihnen rauchten mit noch größerer Besessenheit als die Männer. Ich habe Frauen oder Mädchen gesehen, die hingen an ihren Zigaretten wie an einem seidenen Faden aus Rauch über einem schwarzen Abgrund. Geredet wurde kaum. Ihre Gesichter standen in einer mir bis heute rätselhaften verwandtschaftlichen Beziehung zueinander. So wie sie äußerlich diese ungebremste Zigarettensucht verband, so musste, dachte ich, auch innerlich eine Gemeinschaft bestehen, eine Verzweiflungsverwandtschaft der besonderen Art.
    Unvergesslich ist mir auch vor einer anderen Station eine junge Frau geblieben, die vor spastischen Zuckungen die Zigarette nicht selbst halten konnte. An den Armlehnen ihres Rollstuhls hatte sie zwei Laschen, in die sie ihre Hände schob, um sie unter Kontrolle zu bekommen. Doch sie liebte Zigaretten. Eine Schwester fixierte ihren Kopf und fütterte sie mit Rauch.

Die Höhe der Buchstaben
    Die in zwei Ringen um unser Haus herum angeordneten Anstaltsgebäude waren durchbuchstabiert. Im inneren Ring standen die Buchstaben A bis G, im äußeren Ring lagen H bis P. Außerhalb dieser beiden Ringe lagen die Werkstätten und auch einige Felder. Jedes der Häuser hatte drei Stockwerke. Jedes Stockwerk war eine Station. Die Stockwerke hießen nach ihrer Lage »Oben«, »Mitte« und »Unten«. Wegen Überfüllung gab es ein paar Ausnahmen wie »Keller« oder »unterm Dach«. Hieraus ergaben sich die Stationsnamen wie zum Beispiel »A-Unten«, »J-Mitte« oder »B-Oben«. Mein Vater sprach oft von den Stationen. Er sagte dann: »Heute hat wieder einer in G-Oben gezündelt.« Oder: »M-Unten ist völlig überfüllt. Heute verlegen wir vier Fälle nach D-Unterm Dach.«
    Diese Art, mit Buchstaben umzugehen, war mir so vertraut, dass ich sicher war, Buchstaben hätten unterschiedliche Höhen. Als ich schreiben lernte, begann ich Fragen zu stellen: »Schreibt man Hund mit H-Unten oder H-Oben?« Doch es war noch komplizierter. Innerhalb der Gebäude befanden sich die leichteren Fälle unten, die schweren mittig und die schwersten, hoffnungslosen oben.
    Wollte ich einem von mir geschriebenen Wort besondere Bedeutung verschaffen, schrieb ich es mit hochgestelltem Anfangsbuchstaben. Die berüchtigte geschlossene Abteilung »K-Oben« machte alle geschriebenen K-Wörter mit diesem K-Oben sehr gefährlich. Käse, Krankheit, Krümel, Kaffee, Kindergarten oder Katze geschrieben mit K-Oben waren wild und kaum kontrollierbar. Ein Käse mit K-Oben stank und war ungenießbar, eine Krankheit mit K-Unten war eine nur leichte, nicht lebensbedrohliche Erkrankung, eine Katze mit K-Mitte konnte, musste aber nicht kratzen.
    Die Höhe der Buchstaben verband sich mit den Krankheiten der Patienten. In L-Unten lebten die magersüchtigen Mädchen. Vor diesem Haus waren oft Körperumrisse
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