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Die spaete Ernte des Henry Cage

Die spaete Ernte des Henry Cage

Titel: Die spaete Ernte des Henry Cage
Autoren: David Abbott
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Teil I
    Norfolk, Mai 2004
    Henry Cage wusste, es war unverzeihlich, mit dem alten Land Rover zur Beerdigung zu fahren, aber der Wagen war das einzige Vehikel, das er hatte. Und außerdem, was spielte es schon für eine Rolle. Es war doch sowieso alles egal. Als die Polizei den Wagen freigab, hatte Henry ihn sofort zum Autohändler gebracht. Dort hatten sie die alten Sicherheitsgurte herausgenommen und neue, selbstspannende eingebaut. Die Werkstatt hatte das aus Gefälligkeit in ein paar Stunden erledigt, doch die schnelle Reparatur war ihm eher wie ein Vorwurf erschienen.
    Henry wurde in der Kirche nicht erwartet. Er hatte seinem Sohn erklärt, er sei der Sache nicht gewachsen und könne nicht kommen. Fernbleiben konnte er allerdings auch nicht, wie ihm am Morgen klar geworden war; er hatte sich schnell rasiert und dabei am Hals geschnitten, sodass der Kragen seines weißen Hemds Blutflecken abbekam, als er versuchte, sich die Krawatte zu binden. Eine Woche zuvor hatte ihm der Arzt Schlaftabletten verschrieben,aber Henry wollte nicht vergessen und hatte die Tabletten nicht genommen. Nun waren seine Augen beinahe zugeschwollen, wie bei einem Boxer am falschen Ende einer guten linken Geraden. Während der Fahrt zur Kirche war er auf den Seitenstreifen geraten und hatte etliche Meter wilden Kerbel niedergemäht, bevor er wieder auf die Straße gelangte. Nun folgte Henry den mit Kreide auf die Torpfosten gemalten Pfeilen und parkte auf der Weide neben der Kirche. Die Sonne stand hoch am Himmel, und die Anzahl roter Autos auf der Wiese deprimierte ihn nur noch mehr.
    Als er auf den Weg trat, horchte er, ob es Musik gab. Es musste doch Musik geben. Sie hatte ihn und seinen Enkel miteinander verbunden. Lieblingskassetten, die sie im Auto immer und immer wieder hatten laufen lassen; ein Textfetzen, ein überschwängliches Riff, über das sie wie auf Einsatz ausgelassen lachen mussten. Henry hoffte, dass jemand an die Musik gedacht hatte – etwas Passendes, nichts allzu Religiöses. Henry hätte die Aufgabe ja übernommen – hätte sie besser als jeder andere gelöst, aber sie hatten ihm die Mühe abgenommen. Ruh dich aus, hatten sie gesagt. Ausruhen?
    In den tiefsten Nachtstunden jenes Tages hatte er in seinem zerlesenen Gesangbuch nachgeschlagen. Im Verzeichnis war er die Auswahl der Lieder zu besonderen Anlässen durchgegangen und hatte zu erraten versucht, was sein Sohn wohl auswählen würde, hatte aber nur Beweise dafür gefunden, wie besessen das viktorianische England von Sünde und Läuterung gewesen war. Es gab Liederfür Abstinenzlertreffen, Lieder für Lehrerversammlungen, Lieder für die Grundsteinlegung einer Kirche – was er nicht fand, war ein Vorschlag für die Aussegnung eines kleinen Kindes, das von einem fahrenden Land Rover mitgeschleift worden war.

    Die Kirchenpforte war zu, doch durch die offenen Fenster konnte Henry das Auf und Ab eines Gebetes hören und wusste, dass es zu spät war, um noch hineinzugehen. Er stellte sich vor, wie die Kirchenpforte knarrte, wie seine Schuhabsätze auf den Steinfliesen klackten, sah die Köpfe der Trauergäste, peinlich darauf bedacht, sich nicht umzudrehen.
    Henry ging den Weg entlang zu dem frisch ausgehobenen Grab. Die Grasnarbe, die über die Seiten drapiert lag, erinnerte ihn an die Auslagen in Gartenzentren; das alles wirkte ein wenig aufdringlich an diesem Ort des müden Rasens und der alten Steine. Die Öffnung schien wie ein Scherz, sie war kaum mehr als ein Spalt in der Erde. Doch dann liefen wieder die Bilder in seinem Kopf, er saß mit einem Arm um die schmalen Schultern des Kindes auf dem Sofa, und er wusste, es war kein Irrtum.
    Bitte, Hirn, hör auf damit, flehte er.
    Henry blickte hoch, um sich abzulenken. Die Gräber ringsum trugen den Familiennamen seiner Schwiegertochter. Auf dem Nachbargrab der Stein von John und Clara Burnham, den Urgroßeltern des Jungen mütterlicherseits, der sich beschützerisch zum frischen Grab hinüberneigte. In hundert Jahren würden sich die Besucherdieser Kirche wohl fragen, wie es dazu gekommen war, dass ein Achtjähriger mit dem Familiennamen Cage hier zwischen den Burnhams ruhte, die alle sehr alt geworden waren.
    Dann hörte er es.
    Aus der Kirche drang der vertraute Klang eines Cha-Cha-Cha. Eines Abends beim Essen waren sie alle der Meinung gewesen, Ruben Gonzalez sei der beste Musiker auf Kuba. Wieder sah Henry den Jungen, wie er vom Stuhl glitt und durch die Küche tanzte; er hatte die Arme nach oben gereckt,
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