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Abschied braucht Zeit

Abschied braucht Zeit

Titel: Abschied braucht Zeit
Autoren: H Christof Mueller-Busch
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Vorbemerkung des Herausgebers
    Die Palliativmedizin führte lange ein Schattendasein in der Humanmedizin. Die Palliativmedizin passt eigentlich auch nicht in eine Zeit, in der angeblich alles, wirklich alles machbar ist, wenn man es nur richtig macht. Dass es auch so etwas wie ein Schicksal gibt, dass nicht alles mit Eigenverantwortung, Vorsorge und individueller Kompetenz gemeistert werden kann, das blenden wir konsequent aus. Sportliche Betätigung, gesunde Ernährung, der jährliche Gesundheitscheck, regelmäßige Vorsorgeuntersuchungen von Dickdarm, Haut, Brust, Gebärmutterhals oder Prostata verhindern aber weder Krankheit noch den Tod. Und nicht jeder von uns wird abends einschlummern und im Schlaf einen friedlichen Tod gestorben sein. Es heißt nicht umsonst Todeskampf. Der Tod ist nicht machbar.
    Die moderne multimediale Gesellschaft ignoriert das weitgehend. In der Medizin hingegen ist in den letzten Jahrzehnten ein Umschwung zu beobachten. Die Auseinandersetzung mit dem Sterben und dem Tod hat heute sogar einen Platz in der Ausbildung von Medizinstudenten, wenn auch erst seit 2012.
    Die Auseinandersetzung mit palliativer Medizin ist vielschichtig. Sie besteht zum einen darin, dass die Medizin – ganz im Gegensatz zur Machbarkeits-Ideologie – anerkennt, dass es Situationen gibt, in denen sie nichts machen kann, nämlich nichts im Sinne der hyperaktiven, hypermodernen, hypertechnisierten Heilungsmaschinerie, die die zunehmend profitorientierte Humanmedizin längst in den Griff genommen hat. Aber ist das wirklich nichts? Wo sich die Humanmedizin zur Palliativmedizin bekennt, zum Lindern, zum Begleiten, zum individuellen Bemühen um Würde im Sterben, da ist eine veränderte Haltung gefragt.
    Denn sofort sieht sich die Humanmedizin unweigerlich auch mit schwerwiegenden Konflikten konfrontiert, die ethischer, politischer, ja philosophischer Natur sind und eben einer Haltung bedürfen: Es bedarf einer Haltung zur Sterbehilfe. Es bedarf einer Haltung zur Euthanasie. Es bedarf einer Haltung zu spirituellen Kontexten. Es bedarf einer Haltung zur Individualität des Menschen, nicht nur, aber auch in seiner Krankheit, und nicht nur, aber auch in seinem Sterben und seinem Tod.
    In dem Wort Haltung steckt das Wort Halt. Dieses Buch, geschrieben von einem der bekanntesten Palliativmediziner Deutschlands, wird dazu beitragen, dass Haltung gefunden werden kann, aber auch Halt. Es kann Patienten einen Halt geben, die sich am Lebensende angekommen wissen und ein Gegenüber dringend brauchen, wenn das einsame und würdelose Sterben ein Ende haben soll. Es kann Angehörigen einen Halt geben, denen Begleiten und Trennenmüssen mehr abverlangt, als sie es zuvor vielleicht ahnen konnten. Es kann Medizinstudenten, es kann junge und erfahrene Ärzte an die Konzeptionen, Widersprüche und Auseinandersetzungen der Palliativmedizin heranführen und ihnen einen Halt geben beim Finden der eigenen Haltung.
    Die Reihe medizinHuman hat den Anspruch, mit jedem einzelnen ihrer Bücher und in ihrer Gesamtheit Theorie und Praxis der Humanmedizin mit politischen und sozialen Konzepten einer solidarischen Gesellschaft zu verbinden. Diesem Anspruch wird der hier vorliegende vierzehnte Band der Reihe medizinHuman in besonderer Weise gerecht.

Einleitung
    »Warten ist geschenkte Zeit«, erklärte mir Herr F. bei der morgendlichen Visite. Eigentlich hatte ich gedacht, dass der 73-jährige ehemalige Versicherungsmakler das Wochenende nicht überleben würde. Etwas verwundert begrüßte ich ihn mit den Worten: »Schön, dass wir uns wiedersehen.« Wegen einer aggressiven Erkrankung des blutbildenden Knochenmarks waren in den letzten Wochen immer häufiger Bluttransfusionen notwendig geworden, die ihn zwar für kurze Zeit etwas kräftiger werden ließen, das Fortschreiten der Erkrankung insgesamt aber nicht aufhalten konnten. Vor wenigen Tagen hatte er sich entschieden, auf diese lebensverlängernden Maßnahmen zu verzichten, nicht mehr um jede Woche, jeden Tag zu kämpfen. Sechs Jahre waren vergangen, seit man ihm die Diagnose der tödlichen Erkrankung mitgeteilt hatte – sechs Jahre des Kampfes, aber auch sechs Jahre intensiven Lebens. Bis zuletzt hatte er alle Behandlungsmöglichkeiten ausgeschöpft – nun konnten die Ärzte nichts mehr gegen die Krankheit tun.
    Er sah mich an und fragte: »Wie lange wird es noch dauern?« »Wie wichtig ist es Ihnen, das zu wissen?«, fragte ich zurück, und er antwortete: »Zum ersten Mal in meinem Leben
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