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Abschied braucht Zeit

Abschied braucht Zeit

Titel: Abschied braucht Zeit
Autoren: H Christof Mueller-Busch
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empfinde ich das lange Warten nicht als einen Verlust an Zeit, sondern als Gewinn. Aber ich möchte den Moment des Todes nicht versäumen. Je länger ich warte, umso wichtiger wird die Gegenwart. Nun aber warte ich auch auf den rechten Augenblick, auf den Moment des Todes, um ihm in vollem Bewusstsein begegnen zu können.«
    Zwei Tage später starb Herr F. – im Gesicht des Toten fanden sich nur Ruhe und Frieden, keine Spuren von Kampf, Erschöpfung oder Schmerz.
    In Deutschland sterben jährlich ca. 850000 Menschen, etwas mehr als 1 Prozent der Bevölkerung. Mehr als 70 Prozent der im Jahr 2009 verstorbenen Menschen starben nach einer längeren Phase des Krankseins oder nach einer längeren Phase der Pflegebedürftigkeit im Alter, begleitet von Schwäche und Demenz. Nur 10 Prozent starben z.B. an einem plötzlichen Herztod, durch einen Unfall oder Suizid, ohne dass medizinische Entscheidungen und Maßnahmen in der Endphase des Lebens erfolgten. Die restlichen 20 Prozent starben nach einer kurzen Phase des Krankseins, in denen sich das Spannungsfeld zwischen kurativen und palliativen Behandlungsansätzen besonders deutlich zeigt. Auch wenn sich die Vorstellungen über den Sterbeort im Laufe fortschreitender Erkrankungssituationen verändern können, wünschen sich die meisten Menschen, zu Hause zu sterben. Doch noch immer stirbt fast die Hälfte von ihnen in Krankenhäusern und knapp ein Drittel in Pflegeeinrichtungen. Die meisten Sterbenden im Krankenhaus werden zuletzt auf einer Intensivstation behandelt. Dabei hängt die Sterbesituation stark von den regionalen und sozialen Bedingungen ab und wird durch Unterschiede in Struktur, Umfang, Art und Verfügbarkeit der palliativmedizinischen Versorgung bestimmt.
    Im Verlauf des 20. Jahrhunderts ist das Sterben mehr und mehr ins hohe Alter verdrängt worden. Vor 100 Jahren starben noch über 60 Prozent der Menschen vor dem 60. Lebensjahr, heute sind es weniger als 10 Prozent. Das Spektrum der Krankheiten, die heute »tödlich« sind, hat sich gewandelt, und damit auch die Verlaufsformen am Ende des Lebens. Während um 1900 oft rasch verlaufende Infektionskrankheiten als Todesursache noch ganz im Vordergrund standen, starben im Jahr 2005 fast 50 Prozent der Menschen infolge einer Herz-Kreislauf-Erkrankung im höheren Alter, oft verbunden mit Multimorbidität und längerem Krankheitsverlauf. Die »jungen« Alten dagegen starben häufiger an Krebserkrankungen. 1
    Gerade in der heutigen Zeit mit ihrem hochspezialisierten Kampf gegen Krankheit und Tod hat die differenzierte Linderung und Begleitung individuellen Leidens in der medizinischen Welt lange zu wenig Beachtung und Anerkennung gefunden. 2 Durch die Möglichkeiten von Intensiv-, Chemo- und Immuntherapie, spezialisierten Operationen, Organersatz und moderner Medizintechnologie können zwar viele Krankheiten zumindest zeitweilig aufgehalten und Leben verlängert werden, die gewonnene Lebenszeit ist jedoch häufig auch mit einer Zunahme physischen und psychischen Leidens verbunden. Inzwischen aber werden die dadurch hervorgerufenen medizinischen und sozialen Probleme endlich verstärkt thematisiert, was dazu geführt hat, dass Palliativmedizin eine nicht nur im Rahmen der medizinischen Versorgung, sondern auch im Rahmen der ethischen und gesundheitspolitischen Debatte über würdiges Sterben hinausragende und von allen Seiten anerkannte Bedeutung erlangt hat.
    Ein Grundanliegen der Palliativmedizin ist es, die Lebensqualität von Patienten in der letzten Lebenszeit zu fördern. Dabei geht es nicht nur um Schmerztherapie und Angstlinderung, um Trost im Abschied und Beistand für die Sterbenden und ihre Angehörigen. Dem Tod seinen Raum, seine Zeit zu geben, seinen Moment zuzulassen, beinhaltet auch die Frage nach seinem Sinn. Letztlich geht es um die Möglichkeit, die vielleicht wichtigste Zeit im Leben der Menschen miteinander so zu gestalten, dass sie in ihrer Bedeutung für die Sterbenden, aber auch für die Angehörigen erfahrbar und erlebbar wird. Der von der Begründerin der modernen Hospizbewegung Cicely Saunders stammende Gedanke, der Zeit im Angesicht des Todes mehr Leben zu schenken, anstatt um jedenPreis Lebenszeit zu verlängern, bezieht sich allerdings nicht nur auf eine medizinische Aufgabe, sondern stellt auch eine gesellschaftliche Herausforderung dar, die angesichts der demographischen Entwicklung zunehmend an Bedeutung gewinnt. Die Frage, wie die letzte Zeit des Lebens gestaltet werden soll, ist eine
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