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Abschied braucht Zeit

Abschied braucht Zeit

Titel: Abschied braucht Zeit
Autoren: H Christof Mueller-Busch
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Angesicht des Todes, das Bewusstsein eines die Zeit überdauernden Verbundenseins zu anderen, spirituelle Erfahrung von Sinn sowie die Zuversicht einer universellen Transzendenz. 5
    Als K. krank wurde, waren G. und K. schon lange ein Paar. Vor 20 Jahren hatte K. wie durch ein Wunder einen schweren Motorradunfall überlebt. Trotz seiner Behinderung infolge des Unfalls engagierte sich K. ehrenamtlich als Streetworker. Als Ursache der rasch fortschreitenden Lähmungen und Wesensveränderungen, die zunächst als Unfallfolge falsch diagnostiziert wurden, stellten die Ärzte im Krankenhaus schließlich nicht mehr heilbaren Hautkrebs fest. K.s ungebrochen starker Lebenswille hatte dazu geführt, dass er den Fortschritt der Krankheit so lange ignoriert hatte, bis es zu spät war. Trotz intensiver Behandlung verschlechterte sich sein Zustand rasch. Prognose: wenige Wochen, vielleicht einige Monate. Die zunehmende Lähmung hatte inzwischen zu völliger Bettlägerigkeit und zu Schluckbeschwerden geführt. Während der gesamten Zeit wurde K. liebevoll von G. begleitet.
    An einem Sonntagmorgen eröffnete mir G. zwei Wünsche: 1. Wir wollen heiraten – so schnell wie möglich; und 2. Wir wollen noch einmal gemeinsam an die Ostsee fahren. Der erste Wunsch konnte innerhalb weniger Tage durch gute Kooperation einer verständnisvollen Standesbeamtin erfüllt werden, der zweite Wunsch gestaltete sich schwieriger: Die Vorstellungen des Paares, in einem Wohnwagen einige – vielleicht sogar die letzten – Tage an der Ostsee verbringen zu können, stieß auf medizinische und moralische Bedenken, ganz abgesehen von den organisatorischen Problemen. Ein extrem heißer und schwüler Sommer und die Vorstellung, die letzten Tage des Lebens in einem nicht ausreichend klimatisierten Wohnwagen ohne professionelle Betreuung zu verbringen – dafür fand sich im Pflegeteam und bei den Ärzten keine rechte Zustimmung. War dies nicht eine allzu romantische Vorstellung eines guten Sterbens angesichts der massiven Schmerz- und Schluckprobleme, die bei K. immer wieder notfallmäßige Interventionen erforderlich machten? Darf palliative Fürsorge auch zulassen, dass sich das selbst gestaltete Sterben in einem Raum vollzieht, der aus ärztlicher und menschlicher Sicht eher als belastend und quälend angesehen werden muss? Es gab lange Diskussionen über mehrere Tage, bis die Entscheidung dadurch erleichtert wurde, dass das nahende Lebensende immer offensichtlicher wurde. Nur wenige Wochen nach der Hochzeit starb K., im Rooming-In liebevoll begleitet von seiner Ehefrau.
    Einige Zeit später schrieb sie uns einen Brief:
    »Wir machen Flitterwochen – das war unser Entschluss nach der Nottrauung. Wir wurden nie enttäuscht. Die letzten Wochen waren die schmerzhaft-schönsten unserer neunjährigen Beziehung. Das erste Mal in seinem bewegten Leben habe ich meinen Mann wirklich an der schwersten seiner vielen Erkrankungen zerbrechen sehen. Er ist seinen Weg würdevoll und tapfer abgeschritten und hat den Kelch bis zum letzten bitteren Tropfen geleert. Als er die Übermacht der Erkrankung spürte und annahm, konnte er schon kaum noch sprechen. Und letzten Endes begriff ich, dass ich sein nötigstes Recht schützen musste. ›Wir können nicht lange in die Sonne blicken und wir können dem Tod nicht immer ins Auge sehen‹, hat Elisabeth Kübler-Ross geschrieben. Durch seinen früheren Motorradunfall war K. drei Mal klinisch tot. Er wusste und spürte, wovor er seinen unerschütterlichen Lebensmut schützen musste. Es war für uns das Schwerste mitzuerleben, wie schwierig Wollen, Fühlen und Denken, Bewegen und Sprechen werden, wenn einem der Tod in den Nacken steigt. Wir konnten es schließlich ertragen, allerdings nur durch die Nähe und Wärme einer schützenden und heilvollen Gemeinschaft. K. wurde seinem Ende entgegengetragen auf einem Fluss voller Liebe und Sorgsamkeit. Er starb nicht schnell und auch nicht leicht. Aber er zeigte uns jeden Tag, dass Dankbarkeit über Horizonte tragen kann. Mit ihm ist wiederum eines der Königskinder von dieser Erde gegangen. Als heute Morgen der Regen begann, hatte ich das Gefühl, die ganze Welt würde um seinen Tod weinen. Mit Dank dafür, dass es möglich wurde, dies in aller Würde auszuleben und ihm das beste Ende zu bereiten. Eure G.«
    Lebensqualität in der Sterbephase zu ermöglichen, bedeutet zunächst einmal, den anderen zu respektieren. Die Vermeidung sinnlosen Leidens am Ende des Lebens macht es aber immer
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