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Abschied braucht Zeit

Abschied braucht Zeit

Titel: Abschied braucht Zeit
Autoren: H Christof Mueller-Busch
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Frage, die uns alle angeht – auch wenn sich die wenigsten damit beschäftigen möchten. Insofern beginnt palliative Betreuung nicht erst mit dem Beginn des Sterbens.
    Die zunehmende Lebenserwartung und die damit verbundene Zunahme an Beschwerden durch chronische Erkrankungen haben inzwischen zu der Erkenntnis geführt, dass die Orientierung auf eine Verlängerung des Lebens nicht unbedingt immer mit einer Verbesserung der Lebenssituation und der Lebensqualität einhergeht. Was genau für einen Patienten in Grenzsituationen fortgeschrittener Erkrankung angemessen, sinnvoll und wertvoll ist, wird nicht nur innerhalb der Ärzteschaft, sondern auch bei Pflegenden, Patienten und Angehörigen kontrovers diskutiert. In Zukunft wird die Versuchung, in der Konfrontation mit unheilbaren Erkrankungen experimentelle Behandlungsverfahren mit immer höherem Risiko auch in aussichtslosen Situationen anzuwenden, zunehmen und den wissenschaftlichen und therapeutischen Ehrgeiz bestimmen. Palliative Aspekte sollten aber nicht erst dann erwogen werden, »wenn nichts mehr getan werden kann«, sondern sie sollten kurative Behandlungsstrategien besonders in der Onkologie und in der Altersmedizin schon früh begleiten und ergänzen. Fritz Hartmann hat darauf hingewiesen, dass ein guter Arzt nicht nur das Gesundsein und Gesundwerden im Blick haben sollte, sondern dass er auch ein Sterbekundiger sein müsse. 3 Es geht also nicht nur darum, die Krankheit zu behandeln oder durch einen Verzicht auf Behandlung das Sterben zuzulassen, sondern auch darum, in der Patienten-Arzt-Beziehung den Lebensabschied zuwürdigen. Die Beziehung des kranken Menschen zu seinem Arzt wird dabei durch ein Ungleichgewicht bestimmt, da der Arzt schon allein durch seine fachliche Kompetenz, sein Wissen und seine Erfahrung einen Informationsvorsprung für die Begleitung – ein Wort, das auch ›Leitung‹ enthält – des Sterbenden hat. Er muss das in ihn gesetzte Vertrauen so aufnehmen, dass die Kompetenz des Betroffenen im Kranksein, seine Erfahrungen und Werte diese Begleitung mitbestimmen.
    Die Erwartungen des sterbenden Patienten an den Arzt und umgekehrt die des Arztes an den sterbenden Patienten unterscheiden sich. Die Frage, ob man den Tod zulassen oder ihm doch nochmals ein »Schnippchen schlagen« sollte, erschwert oft die persönliche Begegnung und die Kommunikation im Verlauf der Behandlung. Dabei ist auch die Begleitung des Sterbenden häufig noch allzu sehr von der Konzentration auf Befunde bestimmt, besonders dann, wenn es um Entscheidungen geht, die sich auf sogenannte objektive Kriterien und Fakten zu stützen versuchen. In der Begleitung des Sterbenden kommt es aber nicht nur auf die Befunde an. Durch Achtsamkeit auf Befindlichkeit und Beachtung von Intuition kann das Besondere einer Sterbesituation körperlich und seelisch gespürt werden. Die vielfältigen Manifestationen der Befindlichkeit in der Sterbephase wie Trauer, Schmerz, Angst, Scham, Wut, Unsicherheit oder Gelassenheit begleiten die Arzt-Patienten-Angehörigen-Beziehung. Palliative Kompetenz bezieht sich ganz besonders darauf, diese Aspekte aufzunehmen und zum Thema zu machen. Sensibilität für – oft situative – Befindlichkeitsaspekte, wobei auch die Bewusstheit der eigenen Sterblichkeit angesprochen wird, ist ein wichtiges Element einer guten Sterbebegleitung.
    Die Frage nach dem Sinn, existentielle und spirituelle Aspekte der Endlichkeit und der Unabwendbarkeit des Todesstehen in der Sterbebegleitung immer im Raum – und können zu unterschiedlichen Reaktionen führen: Abwehr, Verdrängung, Schuld, Übergangsrituale, Phantasien zu Tod und Jenseits, Wünsche an Angehörige und Annahme des Todes. Aufgabe des Arztes in einer guten Patienten-Arzt-Beziehung ist es dann, Perspektiven zu finden und sicherlich, wenn nötig, auch Trost zu spenden, wobei es in keiner Weise darum geht, den anderen zu überzeugen, sondern darum, ihn auf seinem Weg zu unterstützen. 4
    Balfour Mount, einer der Pioniere der modernen Palliativmedizin, hat in einer faszinierenden qualitativen Untersuchung vor einigen Jahren gezeigt, inwieweit die Anpassung an fortgeschrittene Erkrankungssituationen unterstützt und die Qualität des Lebens verbessert werden konnte, wenn die Sinnbestimmung in begrenzter Zeit bei der Begleitung des Sterbenden in der Phase des Abschieds mit aufgenommen wurde. Für Lebensqualität in der Sterbephase sind vier »Heilkräfte« wichtig: das Gefühl von Selbstsein und Integrität im
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