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Wahn

Wahn

Titel: Wahn
Autoren: Christof Kessler
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begleiten. Als sich herausstellte, dass der Patient auf Grund seines stark erhöhten Blutdrucks eine Hirnblutung erlitten hatte, die einen großen Teil seiner rechten Hirnhälfte betraf, wartete ich noch, um zu erfahren, wie ein dazugerufener Oberarzt der Neurochirurgie den Fall beurteilte.
    »Wenn Ihr Patient auch nur den geringsten Hauch einer Chance haben soll, muss er in der nächsten Stunde auf den Tisch. Wir machen den Schädelknochen auf und saugen das Blut ab, dann hat das noch erhaltene gesunde Gehirn eine Chance, sich zu erholen.«
    Da der Patient komatös war, musste ich als behandelnder Arzt entscheiden, und trotz meiner Unerfahrenheit im Fach Neurologie stand für mich ganz der Aspekt der Lebensrettung im Vordergrund.
    »Klar, machen wir, ich bin mit der Operation einverstanden.«
    Ich wohnte der Operation als Zuschauer bei und bewunderte die Ruhe und Konzentration des Chirurgen, die perfekte Choreographie des OP-Teams und den streng ritualisierten Ablauf der Operation. Verglichen mit dieser Operation erschien mir unser Umgang mit den psychiatrischen Patienten eher willkürlich und regellos.
    Ich musste an den Satz denken, mit dem sich Frau Scholz von mir verabschiedet hatte: »Ich werde Sie nicht enttäuschen.« Jetzt, da sie tatsächlich unterwegs war, überkam mich ein Gefühl des Unbehagens. Wenn sie doch nicht zurückkommen und einen Rückfall haben würde, befürchtete ich vor allem den Spott und die hämischen Kommentare der Kollegen.
    Da die Operation in Steglitz länger gedauert hatte, ging ich nicht mehr in die Klinik zurück, sondern fuhr direkt in meine Wohnung. Am Abend verkniff ich es mir, in der Klinik anzurufen, um nachzufragen, ob Frau Scholz sicher auf der Station angekommen war. Das war am Freitag. Am Samstag machte ich mit meiner Freundin, die in einer Praxis als Psychologin arbeitete, einen ausführlichen Spaziergang über die verschneite Pfaueninsel.
    »Warum bist du nur so angespannt?«, fragte sie. »Du kannst nicht jeden Patienten mit nach Hause nehmen. Was dir fehlt, ist emotionale Distanz, die jeder Therapeut seinem Patienten gegenüber haben muss.«
    »Ich will es eben besonders gut machen, vor allem will ich helfen.« Ich blieb stehen und atmete schwer meinen dampfenden Atem aus. »Sie ist keine Nullachtfünfzehn-Patientin, ich habe sie gerne. Alle sagen, sie ist verloren. Aber ich weiß genau: Ich kann sie retten.«
    »Du bist zu sehr mit deinen Gefühlen in diese Behandlung verstrickt«, sagte meine Freundin, »dadurch verlierst du die Objektivität. Objektiv gesehen müsstest du die Behandlung abbrechen und den Fall abgeben.«
    »Niemals«, rief ich erschrocken aus, »der zynische Meerkamp verhunzt sie noch ganz und gar.«
    Als ich am Montag zum Dienst erschien, nahm mich die Stationsärztin Dr. Augustin am Arm. »Kommen Sie, Herr Kollege, wir schauen uns die Neuaufnahmen vom Wochenende an.« Während mich eine gewisse Vorahnung beschlich, folgte ich ihr über den langen Krankenhausflur. Sie sagte: »Frau Scholz ist nicht, wie vereinbart, am Freitag in die Klinik zurückgekehrt. Wir haben sie am Sonntagabend über die Notaufnahme des Krankenhauses Moabit übernommen.« Dann öffnete sie die Tür von Zimmer 1, dem einzigen Zimmer mit einem Bett mit Überwachungsmonitor für eine kontinuierliche EKG-Aufzeichnung und Blutdruckmessung. »Wie gesagt«, fuhr Dr. Augustin fort, »sie kam am Sonntagabend, Blutalkoholspiegel von 3,0 Promille. Schwere Alkoholintoxikation.«
    Als Frau Scholz mich sah, wendete sie den Kopf zur Seite und versuchte mit zitternden Fingern ihr Gesicht zu verdecken. Mehrere Blutergüsse bedeckten ihr Gesicht, die Nase war aufgeschürft und sie hatte ein blauviolett unterlaufenes rechtes Auge.
    »Sie muss mehrmals gestürzt sein, wahrscheinlich wieder Krampfanfälle«, sagte die Stationsärztin mit tonloser Stimme. Ich trat an das Bett und nahm die bebende Hand der Patientin. »Warum haben Sie das gemacht?«, fragte ich und fühlte Frustration, Enttäuschung, Wut und Mitleid.
    »Lassen Sie das«, sagte Frau Dr. Augustin streng und benutzte dann die gleichen Worte wie meine Freundin während des Spazierganges auf der Pfaueninsel: »Sie haben die therapeutische Distanz verloren. Wenn sie stabil ist, verlegen wir sie in die Bonhoeffer-Klinik in die Geschlossene. Mal sehen, was aus ihr wird. Die Prognose ist sehr schlecht.« Als wir wieder in das Arztzimmer eintraten, herrschte unerwarteterweise Stille, keiner der anwesenden Ärzte kommentierte meine
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