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Wahn

Wahn

Titel: Wahn
Autoren: Christof Kessler
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ich am Schreibtisch und erwartete das Erscheinen meiner Patientin. Sie war schon zehn Minuten zu spät. Ich wählte die Nummer des Schwesternzimmers.
    »Wo bleibt Frau Scholz? Ich finde es nicht gut, wenn sie nicht pünktlich zur Therapie kommt.«
    »Sie ist schon unterwegs, Herr Doktor, die Infusion ist etwas länger gelaufen.«
    »Welche Infusion?«, fragte ich irritiert. »Ich habe keine Infusion angeordnet.«
    »Frau Dr. Augustin hat einen Tropf mit Kalorien und Vitaminen angeordnet, Frau Scholz hat in der letzten Zeit zu wenig Appetit.«
    Vor mich hin grollend, fragte ich mich, was der Stationsärztin einfiel, Anordnungen ohne Absprache mit mir zu treffen. Frau Scholz war schließlich meine Patientin! Da ging die Tür auf, und sie stand vor mir, ruhig und selbstsicher mit hocherhobenem Haupt. Sie hatte Rouge aufgetan, und ich bekam eine Ahnung davon, wie gut sie aussehen könnte, wenn sie nicht dem Alkohol verfallen wäre.
    Sie setzte sich wie immer auf den Stuhl gegenüber dem Schreibtisch und schaute mich erwartungsvoll an. Im Gegensatz zu den vorherigen Sitzungen wirkte sie heute gelöst und entspannt. Insgeheim war ich mir sicher, dass diese Wandlung allein mein Verdienst und als therapeutischer Erfolg zu werten war. »Die Mühe lohnt sich«, dachte ich.
    »Ich habe mich nur für Sie schön gemacht«, sagte sie und lächelte mich kokett an. »Herr Doktor, ich glaube, ich habe alles kapiert, Sie brauchen sich keine Mühe mehr zu machen, ich werde nicht mehr trinken. Es ist viel schöner, wenn man einen klaren Kopf hat. Sie können mir vertrauen. Ich habe eine Bitte«, fuhr sie fort und spitzte kess den Mund. »Ich muss dringend einige Behördengänge erledigen. Ich brauche einen Tag Urlaub, sonst werde ich aus meiner Wohnung geschmissen oder sie drehen mir den Strom ab. Bitte lassen Sie mich morgen tagsüber raus, damit ich die Erledigungen machen kann.«
    »Ich freue mich, dass es Ihnen so gut geht«, sagte ich. »Allerdings bin ich der Meinung, dass es für einen Urlaub noch zu früh ist. Bedenken Sie doch, in was für einem schrecklichen Zustand Sie noch vor ein paar Tagen waren. Nächste Woche, wenn alles so gut weiterläuft.«
    »Ich muss aber morgen raus, nur für ein paar Stunden.« Sie sah mir tief in die Augen: »Bitte!«
    »Sie sind nicht auf einer geschlossenen Station, das heißt, Sie sind freiwillig hier und können jederzeit entscheiden, ob Sie hierbleiben oder gehen möchten.«
    »Ich möchte aber Ihr Einverständnis, ich möchte nicht, dass es heißt, dass ich gegen ärztlichen Rat die Klinik verlassen habe. Ich möchte, dass Sie mir vertrauen und mir zutrauen, dass ich trocken wiederkomme. Ohne Alkohol.«
    Im Arztzimmer erwähnte ich dann beiläufig: »Ich habe übrigens Frau Scholz morgen einen Tag Urlaub gewährt, erstens muss sie dringende Behördengänge erledigen, zweitens ist es ein guter Test, wie stabil sie jetzt schon ist.«
    »Schön, sehr schön«, meckerte Dr. Meerkamp wie ein Ziegenbock und strich fröhlich seinen Schnurrbart in die Höhe. »Am besten, Sie kaufen ihr auch gleich eine Flasche guten Whisky als Proviant.«
    Frau Dr. Augustin schaute verwundert in meine Richtung. »Sie hätten das mit uns besprechen müssen. Kollege Meerkamp hat Recht, es ist zu früh, Sie machen sich Ihre Anfangserfolge zunichte.«
    Da meldete sich der Kollege Herrscher zu Wort, der bisher immer nur schweigend Meerkamps sarkastischen Bemerkungen zugehört und sich in Hinblick auf die Patientin Scholz nie in das Gespräch eingemischt hatte: »Ich verstehe nicht, warum wir hier so herumdebattieren, aus der Patientin Scholz wird sowieso nichts. Sie ist ein hoffnungsloser Fall und praktisch nicht therapierbar. Deshalb ist es völlig egal, was unser junger Kollege da treibt, alles verlorene Liebesmüh. Aber dieses Lehrgeld haben wir alle zahlen müssen.«
    Am nächsten Morgen stand bei meinem Dienstantritt Frau Scholz vor dem Arztzimmer. Sie trug einen gesteppten roten Wintermantel und hatte eine mit Elchmotiven gemusterte Wollmütze auf dem Kopf. »Ich wollte nur Tschüss sagen. Heute Abend bin ich wieder da.« Sie kam etwas näher. »Vielen Dank für Ihr Vertrauen, ich werde Sie nicht enttäuschen.«
    Ich trat auf sie zu, ergriff ihre Hand und sagte mit fester Stimme: »Ich vertraue Ihnen. Sie werden es schaffen.«
    Es wurde ein arbeitsreicher Tag für mich. Ich musste einen Patienten, dessen Zustand sich in unserer Klinik verschlechtert hatte, in das Klinikum Steglitz zur Computertomographie
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