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Wahn

Wahn

Titel: Wahn
Autoren: Christof Kessler
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hatte ich bisher nur aus Büchern gekannt. Schier unfassbar erschien es mir damals, dass sich ein Mensch durch seine Sucht so weit bringen konnte, die Kontrolle über sich und seine körperlichen Funktionen gänzlich zu verlieren.
    »Ich schaue nach ihr. Rufen Sie mich, wenn etwas Ungewöhnliches auftritt«, sagte ich, ganz der Arzt, zu Schwester Gerda und war dabei sehr froh, dass sie die Initiative übernommen hatte.
    Wieder zurück im Arztzimmer, sagte Dr. Meerkamp lachend: »Nun, junger Kollege, Patientin schon geheilt?«
    Er kam mir ganz nahe mit seinem manierierten Kaiser-Wilhelm-Bart, den ich in diesem Moment so albern fand, dass ich am liebsten eine Schere genommen und die steil nach oben gerichteten Spitzen abgeschnitten hätte.
    »Ich habe Distraneurin, zwei Kapseln, zunächst zweistündlich, angesetzt und stündliche Blutdruckkontrollen«, sagte ich zu Frau Dr. Augustin.
    »Sehr gut. Lassen Sie auch die Atmung überwachen, so eine hohe Dosis Distraneurin ist nicht ohne. Wenn sie schlecht schnauft, ersetzen Sie einen Teil des Distras mit Haldol.«
    Als ich am nächsten Tag das Krankenzimmer zur Visite betrat, in dem meine erste Patientin lag, fand ich sie in einem wesentlich besseren Zustand vor. Zwischenzeitlich hatten die Schwestern sich auch um ihre Hygiene gekümmert. Sie war gewaschen worden und steckte in einem frischen Nachthemd. Der Uringeruch hatte sich aus dem Zimmer verflüchtigt.
    Der frisch frisierte Kopf der Patientin lag schläfrig auf dem aufgeschüttelten Kopfkissen. Als sie mich sah, fragte sie ängstlich die Schwester: »Ist das der Arzt?« Dann schaute sie plötzlich starr zur Decke und flüsterte etwas Geheimnisvolles in Richtung Gardinenstange.
    »Sie halluziniert noch. Wir sollten die Distraneurintherapie beibehalten«, sagte Schwester Gerda. Ich untersuchte die Patientin, prüfte die Reflexe und hörte die Lunge ab. All das ließ die Patientin ruhig über sich ergehen. Sie lächelte glücklich und unterhielt sich in einem leisen, liebevollen Ton mit dem Waschbecken neben ihrem Bett. Mit lockender Stimme flüsterte sie: »Komm doch, du kleines Wollknäuel, komm nur, ich tue dir doch gar nichts.«
    »Ist das eine Katze?«, fragte ich aufs Geratewohl.
    Sie lachte laut: »Für einen Doktor sind Sie aber ganz schön dumm, mein Hündchen kann man doch gar nicht mit einer Katze verwechseln.«
    »Darf ich Ihr Hündchen streicheln?«
    »Eigentlich nicht, ist ja mein Hündchen, aber ich finde Sie nett, streicheln Sie es ruhig.«
    Ich trat an das Bett. »Wo ist es denn, ich sehe es ja gar nicht?«
    »Sie sind wirklich dumm, Herr Doktor! Da ist es doch! Schauen Sie doch, wie süß! Jetzt leckt es Ihre Hand.«
    Schwester Gerda ignorierte die halluzinierende Patientin ganz und gar und hielt mir eine Kurve unter die Nase.
    »Sie müssen das Distraneurin weiter geben, wegen der Psychose eher steigern.«
    »Ja, gut, ein Milligramm pro zwei Stunden mehr«, murmelte ich. Dabei regte sich jedoch erstmalig ein Funke des Widerstands gegen Schwester Gerda in mir. Immerhin war ich der Arzt und hatte die Therapie zu bestimmen.
    In der Folge führte ich eine ganze Reihe von Gesprächen mit Frau Scholz. Vor allem interessierte mich die Frage, wie ein Mensch dazu kommt, all seine Energie dafür einzusetzen, sich selber zu zerstören.
    Ich nahm mir vor, alles zu tun, um ihr zu helfen. Ein Ansporn waren auch die negativen Bemerkungen von Dr. Meerkamp, mit denen er meine Anstrengungen begleitete. »Junger Kollege, Sie werden schon sehen, dass man einem Alkoholiker in diesem Stadium nicht helfen kann«, war einer seiner vielen Kommentare.
    Ich behandelte Frau Scholz im Untersuchungszimmer der Station, welches mit einer Liege, einem kleinen Schreibtisch und zwei Stühlen mit Metallgestell eingerichtet war. Über der Liege hing ein Poster, das ein Gehirn zeigte. Auf der Fensterbank stand eine vor sich hindämmernde Zimmerpflanze. Der riesige Heizkörper unter dem Fenster glühte unregulierbar. Als Frau Scholz mir in den ersten Sitzungen unserer Gesprächstherapie gegenübersaß, gekämmt, ohne Halluzinationen und ohne nervöses Zittern, kam sie mir viel jünger vor, nahezu mädchenhaft. Das Gesicht wirkte nicht mehr so aufgedunsen, vor allem war die starke Schwellung der Oberlider zurückgegangen. Wie häufig bei Alkoholikern durchzogen tausende feiner Äderchen Wangen und Nasenflügel, jedoch waren sie jetzt geschickt mit Schminke kaschiert.
    Als Anfänger war ich mit solch einem Fall natürlich überfordert.
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