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Wahn

Wahn

Titel: Wahn
Autoren: Christof Kessler
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Immer wieder ließ ich sie über sich und ihre Kindheit erzählen, die an und für sich, wie ich fast enttäuscht feststellen musste, eher unspektakulär verlaufen war. Beide Eltern waren Lehrer, zwar sehr konservativ, aber, soweit ich es beurteilen konnte, nicht bösartig. Sie hatte eine ältere Schwester, die immer etwas brillanter als sie gewesen war, immer die interessanteren Freunde hatte, auch beim Abitur besser abgeschnitten hatte. Später studierte die Schwester Jura und arbeitete als Rechtsanwältin in einer großen Kanzlei.
    Nach dem Abitur begann Frau Scholz eine Lehre bei der Sparkasse und wollte im Anschluss ein Betriebswirtschaftsstudium absolvieren. So war es beim Antritt der Lehre zumindest angedacht. Aber dazu war es nicht gekommen. Es gab einen Bruch in ihrer Biographie. Sie fing an, immer mehr Alkohol zu trinken. Zunächst nur in Gesellschaft, dann immer öfter alleine. An den Wochenenden war sie manchmal so betrunken, dass sie nicht mehr einkaufen gehen konnte. Freundschaften mit Männern hielten nicht lange, am stabilsten waren Beziehungen zu Alkoholikern. Die Eltern gingen zu ihrer Tochter, die oftmals betrunken ihre Wochenendbesuche abstattete, verbittert auf Distanz. Nachdem sie mehrmals unentschuldigt bei der Arbeit gefehlt hatte und eine beachtliche Anzahl von leeren Flachmännern aus ihren Schreibtischfächern geräumt worden war, verlor sie ihren Job.
    Wie konnte es so weit kommen? Diese Frage stellte sich mir immer bohrender. Zu Hause hatte ich eine ganze Bücherwand, gefüllt mit den Schriften Sigmund Freuds und anderer Psychoanalytiker. Basierend auf dieser Lektüre verfolgte meine Gesprächsführung die Strategie, die frühkindlichen oder späteren seelischen Verletzungen, die zu der Sucht geführt haben müssen, aufzuspüren, um darauf aufbauend einen Weg zur Therapie zu finden. Die anderen Patienten mit Schlaganfall, Multipler Sklerose und Epilepsie, die ich ebenfalls auf der Station betreuen musste, lösten in mir lange nicht ein so hohes Maß an Engagement aus wie die Patientin Scholz.
    Wenn ich nach der Visite im Arztzimmer engagiert und enthusiastisch über die Fortschritte meiner Gespräche mit der Patientin berichtete, erntete ich zunehmend mitleidige Blicke. Die Stationsärztin sah mich dann forschend an, so als ob etwas mit meiner Physiognomie nicht stimmen würde, seufzte und sagte: »Machen Sie nur weiter.« Aber Dr. Meerkamp lachte fröhlich auf, sah mich strahlend an und sagte: »Junger Kollege, wir werden schon sehen, wie weit Sie kommen.« Oder: »Sie sind ein bewundernswerter Idealist, das muss ich schon sagen.«
    Eines Tages umfasste er väterlich meine Schultern, kam mit seinem Gesicht ganz nahe, so dass der hoch gezwirbelte Schnurrbart wieder gänzlich mein Gesichtsfeld ausfüllte, und sagte: »Lieber Kollege, Sie machen sich langsam lächerlich, Frau Scholz ist eine ausgebrannte Alkoholikerin, sie nutzt nur Ihre Unerfahrenheit aus, um sich in den Vordergrund zu spielen. Bei der nächsten Gelegenheit hängt sie wieder an der Flasche und dann werden Sie sich ärgern, dass Sie so viel Zeit und Mühe in sie investiert haben. Bei diesem Stadium der Sucht handelt es sich um eine unheilbare Erkrankung, so wie es bei einer Krebskrankheit häufig der Fall ist.«
    Die Durchsicht der Krankenakte von Frau Scholz schien die Kritik der Kollegen zu bestätigen: Mindestens ein Dutzend Krankenhausaufenthalte in diversen Berliner Krankenhäusern, zwei langfristige Entzugsbehandlungen in spezialisierten Einrichtungen, die abgebrochen worden waren. Ferner bezeugten zahlreiche Akteneinträge, wie häufig die Patientin die Ärzte in der Klinik mit nächtlichen Anrufen behelligt hatte. Einmal hatte sie, wie die detaillierten Ausführungen einer diensthabenden Ärztin dokumentierten, nachts im betrunkenen Zustand angerufen, um über ihren Rückfall zu lamentieren. Wörtlich hieß es: »Die Patientin drohte damit, sich umzubringen, wenn ich auflegen würde. Sie zwang mich, stundenlang ihre endlosen Geschichten voller Schuldzuweisungen anzuhören. Sie sieht sich als unschuldiges Opfer, alle anderen sind schuld an ihrer Misere. Am Ende wurde sie müde und ließ mich auflegen. Sie will sich am Morgen in der Ambulanz vorstellen.«
    Ich klappte den Aktendeckel zu und erwartete Frau Scholz zum nächsten Therapiegespräch. Die Heizung knackte, draußen fiel Schmuddelschnee vom grauen Himmel, die Passanten kämpften mit ausgespannten Schirmen gegen einen nasskalten Wind an. Etwas verärgert saß
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