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Wahn

Wahn

Titel: Wahn
Autoren: Christof Kessler
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von ihm. Das ist doch nicht normal. Sie müssen als Arzt seine Unzurechnungsfähigkeit feststellen und ihn stationär einweisen.«
    Ich erklärte ihr, dass es nicht möglich ist, einem Menschen einfach die Geschäftsfähigkeit zu entziehen, nur weil er sich aufgemacht hat, Erinnerungslücken zu füllen, und informierte sie im Groben über unsere letzte Begegnung in der Sprechstunde. Gleichzeitig teilte ich ihre Sorge. Ich versprach ihr, mich umzuhören und mich sofort zu melden, sobald mir etwas über den Aufenthaltsort ihres Ehemannes zu Ohren kommen würde.
    Ich rief Gerhard Schröder, meinen ehemaligen Nachbarn und Namensvetter des ehemaligen Bundeskanzlers, an. Er war der Leiter der zuständigen Kriminalpolizei. »Ich melde mich, wenn ich etwas höre«, versprach dieser.
    Einige Tage später erreichte mich sein Anruf: »Dein Patient Bornmeister ist gestern in Binz verhaftet worden. Er ist bei einem Einbruch in die Villa eines reichen Geschäftsmanns erwischt worden. Er hatte im ganzen Haus die Bilder von den Wänden genommen, weil er nach einem Tresor gesucht hat. Dann hat er mit einem schweren Hammer ein fest eingebautes Wandregal zerschlagen und dabei zwei wertvolle, fünfhundert Jahre alte chinesische Vasen zerstört, außerdem einen riesigen Flachbildschirm aus seiner Verankerung an der Wand gerissen. Bei der Verhaftung hat er ziemlich durcheinander gewirkt und immer wieder beteuert, dass er einen versteckten Tresor finden müsse, in dem geheimes Beweismaterial versteckt sei. Jetzt bekommt er eine Anzeige wegen Einbruchs und Sachbeschädigung. Außerdem soll er einem Arzt vorgestellt werden, er ist den Kollegen nicht ganz geheuer, vielleicht kannst du da mal Kontakt aufnehmen?«

ALKOHOL
    Die Kollegen im Arztzimmer begrüßten mich freundlich.
    »Herzlich willkommen an Ihrer neuen Wirkungsstätte, ist das Ihr erster Tag in einer Nervenklinik?«
    Dr. Meerkamp rückte ganz nahe an mich heran, er maß fast zwei Meter und hatte als auffälligstes Merkmal einen nach oben gezwirbelten Kaiser-Wilhelm-Schnurrbart.
    »Sie wollen also Psychiater werden?«, fragte er.
    »Jedenfalls möchte ich hier anfangen zu arbeiten. Mein Ziel ist es eigentlich, Neurologe zu werden«, antwortete ich.
    »Das macht hier keinen Unterschied«, erklärte Dr. Meerkamp. »Wir alle sind Nervenärzte, zumindest hier, in der Derfflinger Straße.«
    Ich wagte nicht zu widersprechen. Allerdings konnte man zwischen der Ausbildung zum Neurologen oder zum Psychiater schon unterscheiden. Der Neurologe behandelt die organischen Erkrankungen des Nervensystems, z.B. Hirnhautentzündungen, Schlaganfall oder Epilepsie, während der Psychiater sich um die seelisch bedingten Nervenkrankheiten, z.B. Depression oder Schizophrenie kümmert. Damals in den achtziger Jahren war es allerdings noch möglich, sich beiden Fachgebieten gleichzeitig zu widmen und sich zum »Nervenarzt« fortzubilden.
    Eine zarte Ärztin mit blasser, durchscheinender Haut und einem Arztkittel, der für sie zwei Nummern zu groß schien, kam freundlich lächelnd auf mich zu: »Ich bin Dr. Augustin, ihre Stationsärztin. Hören Sie nicht auf den Kollegen Meerkamp, er ist ein verbohrter Psychiater und hält jeden, der nicht Psychiater werden möchte, für beschränkt.« Ein jungenhaft wirkender Kollege mit rotumrandeter Brille, der an einem Schreibtisch saß und Krankenakten bearbeitete, strahlte mich fröhlich an und sagte: »Und ich heiße Herrscher, leider noch kein Doktor. Ich arbeite zwar schon seit fünf Jahren in dieser Firma, weiß aber immer noch nicht, was ich werden möchte. Vorsichtshalber habe ich eine Ausbildung zum psychoanalytischen Psychotherapeuten begonnen.«
    »Als Erstes schauen wir uns gemeinsam die Aufnahmen vom Wochenende an, dann verteilen wir die Arbeit«, sagte Dr. Augustin, die, obwohl sie körperlich die Kleinste war, ganz offensichtlich bestimmte, wo es auf dieser Station langging.
    Die Nervenklinik »Derfflinger Straße« war in einem alten Gebäude in der Nähe des Berliner Bahnhofs Zoo untergebracht. Sie gehörte zum Krankenhaus Moabit, führte aber durchaus ein Eigenleben. Im Bezirk Moabit des damaligen West-Berlins war die Derfflinger Straße vor allem Anlaufstation für Alkoholiker und Drogensüchtige. Bevor das alte ehrwürdige Gebäude vom Bezirk Moabit übernommen worden war, war es lange Zeit eine Privatklinik gewesen, in der sich die Berliner Bürger diskret ihre Kokain- oder Alkoholsucht behandeln ließen, unter anderem sollen einige
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