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Requiem

Requiem

Titel: Requiem
Autoren: Dirk Kruse
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    Requiem aeternam dona eis, Domine
    Herr, gib ihnen die ewige Ruhe
     
    1. Kapitel
    Die Luft war feucht und regenschwer. Ein kalter Herbstwind wehte durch die trostlose Vorstadt. Einsam zog der Mann seinen Weg durch die Nacht, passierte dunkle Baracken, eine verlassene Ziegelei, überwuchertes Brachland, eine wilde Müllkippe. Er ging mit kräftigen, federnden Schritten, die manchmal in ein graziles Tänzeln übergingen. Denn der Mann pfiff eine Violin-Romanze von Henri Vieuxtemps vor sich hin. Er steckte noch voller Musik aus dem eben gehörten Konzert. Als er fast schon die ersten Häuser der halb verlassen Plattenbau-Siedlung erreicht hatte, in der er wohnte, erstarb das Pfeifen auf seinen Lippen. Aus dem Schatten des seit langem verrammelten Kiosks lösten sich drei Gestalten und stellten sich ihm in den Weg. Sie waren dunkel gekleidet, ihre Füße steckten in schweren Motorradstiefeln und ihre Gesichter waren verhüllt. Alle drei hatten sich schwarze Sturmkappen über die Köpfe gezogen, die nur noch schmale Augenschlitze freiließen.
    »Nun hör dir das an! Ein Kanake, der pfeift. Ich glaub’s nicht«, rief der Linke.
    »Die werden immer dreister. Leben wie die Maden im Speck. Hast dich ja richtig gut bei uns eingelebt im Goldenen Westen, was?«, sprach der Mittlere den Mann drohend an.
    »Ich habe nur …«
    »Schnauze!«, schrie er. »Du antwortest nur, wenn du gefragt wirst. Wir bringen dir schon noch deutschen Anstand bei.« Dabei hob er drohend seine Faust vor die Augen des Mannes. Trotz der Dunkelheit konnte er die vier Runenbuchstaben auf den Fingern gut erkennen, und das sollte er auch: Das Wort »Hass« stand dort eintätowiert. Noch während er es las, schnellte die Faust plötzlich vor und traf ihn hart zwischen den Augenbrauen. Er taumelte zurück, und die drei Maskierten lachten. Diesen kurzen Moment der Unachtsamkeit nutzte er, um zu fliehen. Er rannte in die Richtung zurück, aus der er gekommen war, aber schon spürte er seine Verfolger im Nacken. Als der erste ihn fast erreicht hatte, schlug er einen Haken nach links und floh auf das aufgegebene Fabrikgelände, in der Hoffnung sich dort verstecken zu können. Doch schon nach 100 Metern, er lief gerade an der ersten Baracke vorbei, packte einer der Maskierten seinen Rucksack und riss ihn zu Boden. Er schlug hart vor einem Buchsbaumstrauch auf. Während er nach Luft rang, warfen sie sich zu zweit auf ihn und prügelten auf ihn ein. Sie schlugen und traten ihn mit einer zähen, mechanischen Wut, bis von ihm nur noch ein Wimmern kam.
    »Hört auf«, rief der dritte Vermummte, der zugeschaut hatte, ohne ins Geschehen einzugreifen. Er war kleiner und schlanker als die beiden anderen. »Lasst mir auch noch was übrig. Ich will dem Arsch eine Lektion erteilen, die er nie wieder vergisst.«
    Die beiden Schläger ließen von ihm ab, und der Dritte trat heran. Er lag zusammengekrümmt und halb besinnungslos da, als der ihn mit seinem Fuß auf den Rücken drehte. Das feuchte Unkraut ringsherum war niedergetreten und rot vom Blut.
    »Zieht ihn aus«, kommandierte der Kleinere mit einer merkwürdig hohen Stimme, und die beiden anderen folgten dem Befehl, bis er nackt vor ihnen lag. Der Anführer bückte sich und zog mit der Rechten ein Messer aus seinem Stiefelschaft. Dabei sah er eine leere Bierflasche auf dem Boden im Mondlicht blitzen und hob sie auf. An der Hauswand schlug er die untere Hälfte so ab, dass er nur noch den Flaschenhals mit einem Ring scharf gezackter Scherben in der Linken hielt. Mit beiden Waffen kniete er an der Seite seines Opfers nieder.
    »Nein«, flehte er heiser.
    »Du hättest unser Land eben rechtzeitig wieder verlassen müssen. Jetzt ist es zu spät«, sagte der Vermummte mit gespieltem Bedauern. »Du hast es dir selbst zuzuschreiben.«
    Damit hob er die Arme und ließ Messer und Scherben dicht über dem entblößten Körper ganz langsam kreisen. Mit einem breiten Grinsen im Gesicht stieß der Maskierte ruckartig zu. Rasender Schmerz durchzuckte seinen geschundenen Körper. Dann versank alles in Dunkelheit.

 
    Dies irae, dies illa
    Tag der Rache, Tag der Sünden
     
    2. Kapitel: Sonntag, 21. April
    Regen prasselte auf das kreisrunde Oberlicht der Bibliothek. Er schwoll weder an, noch schwächte er sich ab; seit Stunden fiel er in einem gleichmäßigen Andante und bildete die Begleitmusik eines verregneten Sonntags. Frank Beaufort saß in seinem Ohrensessel, die Beine auf einem gepolsterten Schemel ausgestreckt. Kopf und
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