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Was du nicht weißt: Roman (German Edition)

Was du nicht weißt: Roman (German Edition)

Titel: Was du nicht weißt: Roman (German Edition)
Autoren: Claus Beling
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    D IE V ERGANGENHEIT IST NIE TOT ,
SIE IST NICHT EINMAL VERGANGEN .
William Faulkner
    Dass ausgerechnet der eitle und scharfzüngige Richter John Willingham die erste der beiden Leichen finden sollte, und das auch noch an seinem letzten Arbeitstag am Königlichen Gerichtshof Jersey, war schon ein pikanter Zufall.
    Leicht angeheitert und beseelt von den Feierlichkeiten zu seinem Abschied trat Willingham um kurz nach acht Uhr abends aus dem Eingang des ehrwürdigen Gerichtsgebäudes auf den Royal Square hinaus. Es war noch hell draußen, aber in der Innenstadt war die Abendkühle vom Meer bereits zu spüren. Während er unter den Kastanienbäumen auf sein Taxi wartete, atmete er in tiefen Zügen die frische Luft ein und ließ für einen Augenblick das Fest und die vielen Reden in sich nachwirken. Mit dem weißen Haarkranz und seiner aristokratischen, eleganten Gestalt war er immer noch eine eindrucksvolle Persönlichkeit.
    Er liebte es, wenn andere sich für ihn Mühe machten. Als Oberster Richter hatte der Bailiff ihm zuliebe einen feierlichen Abschied in der ehrwürdigen Bibliothek des Royal Court gegeben. Einige der Reden hatten zwar bei Weitem nicht die intellektuelle Brillanz besessen, für die er, Willingham, berühmt war, doch er war zufrieden. Auch der Abschied von seinen Mitarbeitern war ihm so bewegend erschienen, dass er sich in diesem Moment überaus glücklich fühlte – trotz der anstehenden Veränderungen. Mit sechzig hatte er sich den Ruhestand redlich verdient. Auf ihn wartete eine kostspielige Leidenschaft, die er seit seinem Studium in Oxford pflegte – der Reitsport. Er konnte sich zwar beim besten Willen nicht vorstellen, wie das Magistratsgericht künftig ohne ihn auskommen würde, aber das war nun nicht mehr seine Sache.
    Von seinem Taxi war immer noch nichts zu sehen. Langsam schlenderte er zum benachbarten Pub The Cock & Bottle hinüber, dessen vollbesetzte Tische sich an der historischen Häuserfront des Royal Square entlangzogen. Interessiert musterte er die lärmenden Touristen, die dort saßen und ihr Bier tranken.
    Plötzlich rief jemand seinen Namen. Er drehte sich um. Gwyneth Trollop, seine langjährige Assistentin, kam auf ihn zugelaufen. Wegen des eng geschnittenen schwarzen Rockes, den sie heute ihm zu Ehren angezogen hatte, konnte die kräftige junge Juristin nur kleine Trippelschritte machen. In der Hand trug sie eine schwere Plastiktüte, gefüllt mit Weinflaschen, die man ihm zum Abschied überreicht hatte.
    »Sie haben Ihre Sachen liegen lassen, Richter Willingham!«, rief sie atemlos.
    Er ging ihr ein paar Schritte entgegen. »Danke, Gwyneth. Da sehen Sie mal – Zeit, dass ich aufhöre. Sonst habe ich nie etwas vergessen.«
    Gwyneth wusste genau, wie sie mit ihm umgehen musste. Während sie ihm die Tüte gab, sagte sie schelmisch: »Einspruch, Euer Ehren. Ich habe Sie beobachtet. Sie haben die Weine nur liegen lassen, weil sie Ihnen nicht gefallen.«
    »Ertappt, Gwynnielein.« Willingham seufzte zerknirscht. »Aber ich schwöre Ihnen, früher hat diese Methode immer funktioniert.«
    Die junge Frau hob resigniert die Schultern. »Früher hatten Sie ja auch keinen Nachfolger, der aufgepasst hat und schon morgen früh Ihr Büro beziehen will. Wetten, dass er mich am Ende doch nicht in sein Team übernehmen wird?«
    Willingham wiegelte ab. »Ach was. Sie werden sehen, man kann gut mit ihm zusammenarbeiten.«
    Es war eine gnädige Lüge, denn Edward Waterhouse konnte ziemlich arrogant sein. Aber Gwyneth hatte seiner Meinung nach ein bisschen Hoffnung verdient.
    Das Taxi rollte über den belebten Platz auf sie zu. Richter Willingham gab dem Taxifahrer mit einem kleinen Handzeichen zu verstehen, wo der Wagen halten sollte. Dann wandte er sich wieder an seine Mitarbeiterin.
    »So, und jetzt gehen Sie wieder zu den anderen. Ich glaube, Waterhouse will gleich noch seine Antrittsrede halten.«
    Bissig erwiderte Gwyneth: »Schon allein das ist eine Stillosigkeit!«
    Die Kofferraumklappe des Taxis sprang automatisch auf. Der dicke Taxifahrer machte keine Anstalten, den fetten Hintern von seinem Platz zu bewegen. Normalerweise hätte der Richter sich geweigert, dem Fahrer die Arbeit abzunehmen. Doch heute hatte er keine Lust, sich von einem Flegel den Abend verderben zu lassen.
    Vorsichtig hob er die schwere Tüte mit dem Wein in den Kofferraum, als er plötzlich stutzte.
    Vor ihm – neben zwei schmuddeligen Tupperdosen mit irgendetwas Essbarem – lag der blutverschmierte, jämmerlich
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