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Quantum

Quantum

Titel: Quantum
Autoren: Hannu Rajaniemi
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1   Der Dieb und das Gefangenendilemma
    Bevor das Kriegerhirn und ich aufeinander schießen,
versuche ich, wie jedes Mal, Konversation zu machen.
    »Gefängnisse sind doch immer gleich, findest du nicht?«
    Ich weiß nicht einmal, ob es mich hören kann. Es hat dafür keine
sichtbaren Organe, nur Augen, Hunderte von menschlichen Augen an Stielen, die
wie bei einer exotischen Frucht strahlenförmig von seinem Körper ausgehen. Es
wartet auf der anderen Seite des Leuchtstreifens, der unsere Zellen voneinander
trennt. Der riesige Silbercolt sähe in seinen zweigförmigen Manipulatoren
lächerlich aus, wenn es mich damit nicht schon vierzehntausendmal erschossen
hätte.
    »Mit den Gefängnissen ist es wie früher mit den Flughäfen auf der
Erde. Niemand will hier sein, niemand lebt wirklich hier. Wir sind nur auf der Durchreise.«
    Heute sind die Gefängnismauern aus Glas. Weit über mir scheint eine
Sonne, fast, aber nicht ganz wie die echte, sondern blasser. Millionen von
Zellen mit gläsernen Wänden und gläsernen Böden erstrecken sich nach allen
Seiten bis ins Unendliche. Das Licht fällt durch die transparenten Flächen und
zaubert Regenbogenfarben auf den Boden. Davon abgesehen ist meine Zelle leer –
und ich bin nackt: nackt wie ein Säugling, bis auf den Revolver. Wenn man
Sieger bleibt, darf man manchmal kleine Veränderungen vornehmen. Das
Kriegerhirn war in letzter Zeit ziemlich erfolgreich. In seiner Zelle schweben
schwerelose Blüten, rote, violette und grüne Zwiebelblüher, die aus
Wasserblasen wachsen, Karikaturen seiner selbst. Narzisstischer Dreckskerl!
    »Wenn wir Toiletten hätten, wären die Türen nach innen zu öffnen. Es
ändert sich nie etwas.«
    Und dann geht mir tatsächlich der Gesprächsstoff aus.
    Das Kriegerhirn hebt langsam seine Waffe. Ein Zucken durchläuft
seine Augenstiele. Ich wünschte, es hätte ein Gesicht; der starre Blick dieses
Waldes aus feuchten Augäpfeln ist zermürbend. Egal. Diesmal
wird es klappen. Ich halte den Revolver leicht schräg nach oben, meine
Körpersprache und mein Handgelenk deuten an, wie ich mich bewegen würde, wenn
ich die Waffe heben wollte. Jeder einzelne Muskel schreit Entgegenkommen.
Na los. Fall drauf rein. Ehrlich. Diesmal werden wir Freunde …
    Ein feuriges Zwinkern: ein Blitz aus der schwarzen Pupille seines
Revolvers. Durch meinen Abzugsfinger geht ein Ruck. Zwei krachende
Donnerschläge – danach habe ich eine Kugel im Kopf.
    Man gewöhnt sich niemals daran, wie es ist, wenn heißes Metall
in den Schädel eindringt und durch den Hinterkopf wieder austritt. Die
Simulation ist von einem grandiosen Detailreichtum: die brennende Bahn durch
die Stirn, der warme Regen aus Blut und Hirnmasse auf Schultern und Rücken, die
jähe Kälte – und schließlich die Schwärze, wenn alles aufhört .
Die Archonten des Dilemma-Gefängnisses wollen, dass man es spürt. Eine
Erziehungsmaßnahme.
    In diesem Gefängnis dreht sich alles um Erziehung. Und um die
Spieletheorie: die mathematischen Grundlagen rationaler Entscheidungsfindung. Ein
unsterbliches Bewusstsein – und nichts anderes sind die Archonten – hat die
Zeit, sich zwanghaft mit solchen Fragen zu beschäftigen. Und es sieht dem
Sobornost, also dem Upload-Kollektiv, das im inneren Sonnensystem regiert,
ähnlich, ausgerechnet ihnen die Leitung seiner Gefängnisse zu übertragen.
    Wir spielen das gleiche Spiel in verschiedenen Formen immer und
immer wieder. Es ist ein archetypisches Spiel, wie es
Wirtschaftswissenschaftler und Mathematiker lieben. Manchmal heißt es: »Wer
gibt zuerst auf ?« Dann rasen wir mit hoher Geschwindigkeit über eine endlose
Autobahn aufeinander zu und entscheiden erst in letzter Sekunde, ob wir
ausweichen oder nicht. Manchmal sind wir Soldaten im Schützengraben, die sich
zu beiden Seiten eines Niemandslandes gegenüberliegen. Und manchmal geht man
zurück zu den Wurzeln und macht uns zu Gefangenen – altmodischen Gefangenen,
die von Männern mit harten Augen verhört werden und wählen müssen, ob sie
Verrat begehen oder schweigen wollen. Heute sind Handfeuerwaffen an der Reihe.
Ich freue mich nicht auf morgen.
    Ich zwinkere einmal, schnalze damit ins Leben zurück wie ein
Gummiband – und spüre eine Bruchstelle in meinem Geist, eine scharfe Kante. Die
Archonten verändern jedes Mal, wenn man zurückkommt, geringfügig die neuronale
Konstellation. Sie behaupten, mit der Zeit würde Darwins Wetzstein jeden
Gefangenen zu einem kooperativen Rehabilitierten
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