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Vor meinen Augen

Vor meinen Augen

Titel: Vor meinen Augen
Autoren: Alice Kuipers
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seine Nummer. Genau das hätte auch Emily getan.

Freitag, 23. Juni
    Zwischen Kunst und Englisch erzählte Abigail mir, dass sie mit Dan Schluss machen würde. »Er ist eigentlich gar nicht so nett, Sophie.« Sie schluckte. »Ich habe herausgefunden, dass er mit Megan geschlafen hat.« Sie fing an zu weinen.
    Ich fragte: »Kommst du klar?«
    »Ich mochte ihn nicht einmal so sehr. Ich weiß auch nicht. Ich fasse nicht, was Megan getan hat.«
    »Es war wahrscheinlich genauso gut auch seine Schuld.« Ich versuchte, Megan ein wenig zu verteidigen, nicht weil ich sie mag, sondern weil ich ein so schlechtes Gewissen hatte.
    Abi wischte sich über die Augen. »Es gibt andere Sachen, womit ich klarkommen muss. Ich glaube sowieso, dass Megan nicht gut für mich war. Sie …« Sie schluckte wieder. »Sie hat die Sache mit dem Erbrechen angefangen.« Sie machte eine Pause. »Morgen habe ich einen Termin bei meinem Doktor.«
    Ich antwortete nicht, aber ich war froh, denn mir wurde klar, dass es ein großer Schritt nach vorne ist, wenn Abi Hilfe annimmt. Abi plauderte mit mir, während wir durch die überfüllten Korridore gingen, und es fühlte sich fast wie in alten Zeiten an. Und irgendwie auch wieder nicht. Ich bin mir nicht sicher, ob wir jemals wieder so sein werden, wie wir waren. Ich glaube jedoch nicht, dass es mir soviel ausmacht, wie es mir früher ausgemacht hätte. Ich hoffe, Abigail geht es bald besser.
    Mir hoffentlich auch.

Montag, 26. Juni
    Nachdem ich heute Abend meine Hausaufgaben fertig hatte, lag ich in meinem Zimmer. Mum kam mit einem Rucksack herein – dem Rucksack, den Emily im letzten Sommer mitgebracht hatte, am Tag, bevor sie starb. Ich setzte mich auf und sah Mum an. Sie zog ein paar brüchige Zweige heraus, und es dauerte einen Moment, bis ich mich daran erinnerte, dass sie für Em’s Stammbaumprojekt gewesen waren.
    Ich sah Mum an und hatte das Gefühl, es dauerte ewig, doch es waren vielleicht nur zwei Sekunden.
    Sie sagte: »Es gibt eine Gedenkfeier. Man hat mich gebeten, etwas zu sagen. Ich möchte gern das hier machen, und ich würde mich freuen, wenn du mir dabei hilfst.« Es klang auswendig gelernt.
    Ich merkte, wie sehr sie sich bemühte – wie sehr sie sich bereits bemüht hatte. Und ich wusste, es war Zeit für mich, mir auch ein bisschen mehr Mühe zu geben. Meine Stimme brach nur ein klein wenig, als ich fragte: »Wie helfen?«
    »Ich dachte, wir könnten es zusammen machen.«
    Ich schwieg eine ganze Weile.
    Sie blickte nach unten. Ich konnte sehen, wie die Hoffnung aus ihr schwand.
    Dann blickte ich auf die brüchigen Zweige, die sie herausgeholt hatte. Ich fragte: »Und wie sollen wir es machen?«
    Sie sah mir in die Augen und lächelte. »Ich weiß auch nicht. Vielleicht sollten wir das, was sie vorhatte, abwandeln. Wir könnten es so machen, dass es irgendwie sie darstellt. Ich weiß aber auch noch nicht richtig, wie.«
    Da hätte ich am liebsten geweint, richtig bitterlich, aber ich schluckte die Tränen hinunter und schlug vor: »Wir könnten aus den Zweigen einen Baum machen, dann farbige Blätter aus Papier, auf die wir schreiben, wie sie war.«
    Mum nickte.
    Wir fingen unten an und arbeiteten uns zur Spitze hoch, Blatt um Blatt. Es war kein so schöner Baum, wie Emily ihn gemacht hätte, wahrscheinlich auch nicht so künstlerisch, aber er war bunt.
    »Emily hätte das gefallen«, meinte Mum und hing ein lilafarbenes Blatt auf eine Seite des Baums. »Das hier könnte großherzig sein.«
    »Wir brauchen ein Blatt für lustig . Sie war lustig.«
    Sie hielt kurz inne, dann nickte sie.
    Ich bemalte ein paar Blätter in hellem Orange. Eines hob ich hoch und sagte: »Ich möchte, dass dieses eine Erinnerung ist, die ich an Emily habe, wie sie am Strand in Griechenland meine Hand hielt.«
    Mum nickte.
    Alles, was ich sagen konnte, war: »Ich vermisse sie.«
    Mum begann zu weinen. Die Tränen strömten einfach so heraus. Sie sagte: »Ich vermisse sie die ganze Zeit. Jedes Mal, wenn ich auch nur Luft hole, denke ich an sie. Wie könnte ich auch nicht? Aber das heißt nicht, dass ich nicht an dich denke und daran, was du durchgemacht hast, Sophie. Was du mit ansehen musstest. Ich wünschte, ich könnte es wegnehmen, um es für dich leichter zu machen. Aber das kann ich nicht. Ich kann nicht ungeschehen machen, was passiert ist. Und ich kann auch nicht ungeschehen machen, in welchem Zustand ich mich befunden habe. Es tut mir so leid.« Sie blickte mich an und ich sah, dass ihre Augen
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