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Vor meinen Augen

Vor meinen Augen

Titel: Vor meinen Augen
Autoren: Alice Kuipers
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habe es selbst erst kürzlich gemerkt. Ich war wohl, äh, ein wenig abgelenkt.«
    Er machte einen Schritt zurück, brach den Blickkontakt ab und wiederholte: »Bulimie. Bist du sicher?«
    Da sah ich Abigail hinter ihm stehen. Eine Träne rann über ihre Wange, und ich wusste, sie hatte es mitangehört. Sie sagte ganz leise: »Ich weiß nicht, was ich tun soll.«
    Ihr Bruder war mit zwei Schritten bei ihr und nahm sie in die Arme. Ich sah auf den Boden und hörte ihn sagen: »Ich helfe dir, Abi. Sag mir einfach, was ich tun soll.« Er ließ sie los. »Ich lass euch beide jetzt mal reden.« Damit verließ er das Zimmer.
    ICH HABE MICH NIE IM LEBEN SO UNSICHER UND UNWOHL GEFÜHLT. Abigail und ich starrten uns an. Ich konnte den Graben zwischen uns beinahe spüren, und wie der Fluss darin vorbeirauschte.
    Sie sagte: »Es tut mir so leid, wegen Emily.«
    Ich schluckte.
    »Es tut mir wirklich leid. Ich kann gar nicht fassen, wie es dort gewesen sein muss. Ich kann es mir nicht einmal annähernd vorstellen. Und du musst so wütend gewesen sein auf diese Terroristen, und du hast so furchtbare Dinge gesehen, und ich war dir gegenüber so gemein. Es ist alles so kaputt.«
    »Ich vermisse sie die ganze Zeit«, sagte ich. »Erinnerst du dich, wie sie mich immer herumkommandiert hat? Und ich sagte immer, dass ich sie hasste.«
    »Nicht immer.«
    Ich schluckte und fügte hinzu: »Ich wünschte, ich hätte nicht die ganze Zeit so viel Angst gehabt. Und wäre nicht so wütend gewesen.«
    Abigail wiederholte: »Ich kann es mir überhaupt nicht vorstellen.« Sie holte tief Luft. »Ich wünschte, ich wäre dir eine bessere Freundin gewesen. Ich wusste wirklich nicht, wie ich es anstellen sollte.«
    »Ich habe es dir ja auch nicht leichtgemacht. Ich wusste nicht, wie ich mit irgendjemandem über das reden sollte, was passiert war. Es war nicht nur mit dir so. Es tut mir leid. Wirklich.« Und dann machte ich einen Schritt auf sie zu und umarmte sie. Ich beschloss, ihr die Sache mit Dan nie zu erzählen – mir wurde klar, dass manchmal selbst beste Freundinnen nicht immer alles voneinander wissen sollten.
    Sie fragte: »Geht es dir besser?«
    Ich zuckte mit den Schultern. »Nicht wirklich. Ich möchte es gern, aber es geht mir nicht gut. Nicht einmal ansatzweise.« Ich machte eine Pause, dann sagte ich: »Es wird mir wahrscheinlich noch eine ganze Weile nicht besser gehen. An Ostern bin ich dorthin gegangen, wo meine Familie ganz früher gewohnt hat.«
    »Wo ist das denn?«
    »Bowood Road. Ist eigentlich auch egal. Ich weiß nicht einmal, warum ich es dir erzählt habe.«
    »Wie war es denn? Hast du dich an etwas erinnert?«
    »Nein, an gar nichts. Ich weiß nicht einmal, warum ich hinging. Vielleicht, weil ich alles besser verstehen wollte. Ich wollte wissen, wie es früher war.«
    Sie sagte: »Ich verstehe, was du meinst.«
    »Ich weiß, was mit dir los ist, weil ich einmal zufällig in der Schule auf der Toilette war, als du mit Megan reinkamst und ihr darüber geredet habt. Danach habt ihr euch übergeben.«
    »O Gott. Alles ist so außer Kontrolle geraten. Ich konnte einfach nicht damit klarkommen, was dir und Emily letzten Sommer passiert ist. Und Mum trinkt auf einmal wieder mehr, und ich wusste nicht, wie ich damit umgehen sollte, und dann plötzlich nahm ich ab. Ich fühlte mich besser und ich sah gut aus, und ich hatte wohl dadurch zumindest ein bisschen Kontrolle über die Dinge, die mich betrafen.«
    Ich holte tief Luft.
    Abigail sagte: »Ich weiß nicht, was ich tun soll.«
    »Ich kann dir helfen.«
    »Nein. Ich glaube, ich brauche professionelle Hilfe.«
    Ich hatte das Gefühl, alles drehte sich im Kreis. Ich sagte: »Ich auch. Ich bin zu dieser Therapeutin namens Lynda gegangen, die mich fast wahnsinnig gemacht hat. Seit kurzem habe ich eine andere, weil ich so gestört bin. Ich habe Panikattacken. Andauernd.« Ich ging zum Sofa und setzte mich. »Wie sind wir denn bloß so total kaputtgeworden?«
    »Sprich mal für dich selbst«, meinte sie, doch es war im Scherz. Als sie es so sagte, war es irgendwie lustig, und ich musste lachen. Sie setzte sich neben mich.
    Ich sagte: »Und dabei dachten wir doch im letzten Jahr, wir seien so wahnsinnig reif und erwachsen.« Und es klingt vielleicht nicht lustig, wenn man es so liest, aber sie lachte und ich lachte und dann schüttelten wir uns beide vor Lachen.
    Ihr Bruder kam herein und sagte: »Es ist nicht lustig «, und da mussten wir beide nur noch mehr lachen. Er lächelte und
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