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Vor meinen Augen

Vor meinen Augen

Titel: Vor meinen Augen
Autoren: Alice Kuipers
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gold-gefleckt waren. Das habe ich vorher nie bemerkt. »Aber du musst wissen, Sophie, dass ich niemals wünschte, du wärest es stattdessen gewesen. Niemals habe ich das gedacht.«
    Ich sagte: »Ich weiß. Ich hatte halt immer das Gefühl, du magst sie lieber.« Und dann konnte ich nichts mehr sagen, weil ich einen Kloß im Hals hatte. Ich drehte mich weg und beschrieb eines der orangefarbenen Blätter.
    Sie sagte: »Ich liebe euch beide gleich. Das habe ich immer getan. Und stell dir nur vor: An dem Tag des Bombenanschlags hättet ihr beide umkommen können. Ich ertrage es kaum, daran zu denken, wie furchtbar es gewesen wäre, wenn ich dich verloren hätte, meine kleine Tochter.« Sie wischte sich über die Augen. Dann schnitt sie ein großes Blatt aus und sagte: »Das hier könnten wir sein. Wir waren Teil ihres Lebens. Du und ich und euer Vater.«
    »Ja … Dad.« Ich hielt die Luft an. »Mum, wegen Robin. Ich gebe mir Mühe, nett zu sein, aber es wird eine Weile dauern, bis ich mich daran gewöhnt habe, dass er öfter hier ist. Ich fand es schwierig …«
    »Robin ist im Augenblick nur eine Stütze für mich, ein guter Freund, das ist alles. Ich bin immer noch zu traurig für irgendetwas anderes.«
    »Ich bin immerzu traurig. Und ich habe Panikattacken. Dabei habe ich das Gefühl, als würde ich sterben. Meinst du, ob es wohl für sie so war? Zu sterben, meine ich.«
    »Oh, Sophie!«
    »Ich muss dauernd daran denken. Das Blut, die Schreie, die Panik, die Flammen.«
    Sie nickte und nahm meine Hand. Ich sah zu ihr hoch. »Deine Augen haben ihre Farbe verändert«, stellte ich fest. »Sie haben jetzt goldene Flecken.«
    »Wirklich?«, fragte sie. Und dann saßen wir eine Weile da, ihre Finger mit meinen verschränkt.

Donnerstag, 29. Juni
    Heute gingen Rosa-Leigh, Kalila und ich nach der Schule Klamotten für den Sommer einkaufen. Kalila ist toll darin, Sonderangebote zu entdecken. Wir haben super Sachen gefunden.

Freitag, 30. Juni
    In der Schule haben wir heute über Prüfungen und unsere Zukunft gesprochen. Vielleicht werde ich Ärztin. Nein, ich glaube nicht, dass ich mit all dem Blut klarkäme. Aber vielleicht werde ich Anwältin oder Psychiaterin oder Psychologin, jemand, der anderen Leuten hilft. Darin könnte ich vielleicht gut sein. Ich muss aber noch stärker daran arbeiten, anderen Leuten zuzuhören. Und ich muss in der Schule besser werden. Dieses Jahr habe ich keine besonders guten Noten bekommen, obwohl ich mich in der letzten Zeit mehr angestrengt habe, weil ich mir wegen des nächsten Jahres Sorgen mache. Ich muss jede Menge Stoff nachholen.
    Ich kam nach Hause, erledigte meine Hausaufgaben und saß dann da und sah in einem Meer von Sonnenschein noch etwas fern. Ein Vogel flog mit einem lauten Knall gegen ein Fenster unseres Hauses. Ich rannte hinaus. Ein armer kleiner Spatz lag schwer atmend auf dem Gras. Ich kauerte mich hin und hielt meine Hände um ihn. Er zuckte und flatterte panisch, aber ich wollte ihn vor Fluffy retten, die sich schon anschlich. Nach einer Weile hob der Vogel den Kopf, machte ein paar Schritte und flog davon.
    Danach ging ich zu Mum. »Können wir ihr Grab besuchen?«, platzte ich heraus.
    »Möchtest du wirklich? Immer, wenn ich dich bisher gefragt habe, wolltest du nicht mitkommen.«
    Ich nickte. »Ich möchte es.«
    Sie zog ihre Autoschlüssel aus der Tasche. »Dann lass uns fahren.«

    Der Friedhof an der Kirche in Highgate ist still. Die Gräber sind kreuz und quer verteilt, und im Sonnenlicht ist der Friedhof eigentlich ein schöner Ort. Emilys Grab ist drüben bei einer Reihe von Bäumen. Wir setzten uns in die Nähe. Ich las ihren Name und ihr Alter und blickte auf die Blumen, die jemand dort hingelegt hatte. Nichts passierte, und ich fühlte mich weder gut noch schlecht. Ich genoss es einfach, dass Emily, Mum und ich alle zusammen waren – auch wenn Emily nicht da war, war sie es doch, wenn das irgendwie Sinn macht –, und die Zeit ging dahin.

Donnerstag, 6. Juli
    Morgen findet die Gedenkfeier statt.

Freitag, 7. Juli
    Wir balancierten Emilys Baum neben mir auf dem Rücksitz des Autos, als wir zur Gedenkfeier fuhren. Na ja, Robin fuhr.
    Sobald wir ankamen, fühlte ich mich leicht schwindelig. Jede Menge Leute standen herum. Wir warteten einen Moment, und Mum ging zur Bühne, um Emilys Baum an die Seite zu stellen. Dann stand eine alte Frau auf und sprach ins Mikrophon. Sie begann die Namen all der Leute vorzulesen, die bei dem Bombenanschlag gestorben
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