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Vor meinen Augen

Vor meinen Augen

Titel: Vor meinen Augen
Autoren: Alice Kuipers
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waren. Als sie Emilys Namen vorlas, dachte ich, ich würde ohnmächtig. Dann sah ich einen großen jungen Mann, den ich erkannte. Es war der Mann, der mir aus dem Tunnel geholfen hatte. Er hatte eine Narbe über einer Wange, die bis zum Auge verlief, und hielt eine einzelne rote Rose in der Hand.
    Ein anderer junger Mann kam auf uns zu. Simon. Emilys Freund vom College. Ich hatte ihn bei ihrer Beerdigung kennengelernt. Mum beugte sich zu ihm vor und sagte: »Hallo. Schön, dich zu sehen, Simon.« Und dann: »Danke fürs Kommen.«
    Simon sagte: »Wir vermissen sie alle«, und er deutete hinüber zu einer Gruppe von Leuten. Emilys Freunde vom College. Manche von ihnen weinten. Ihr ganzes anderes Leben! Und eine mir vertraute Wut stieg in mir auf, aber dann, statt in meiner Kehle steckenzubleiben, flog sie aus mir hinaus in den weiten, offenen Himmel. Ich atmete ganz langsam aus. Meine Hände waren zusammengeballt gewesen, merkte ich, also entspannte ich sie und streckte meine Finger. Ich lächelte zu Emilys Freunden hinüber, und zwei oder drei von ihnen mussten mich von meinen Besuchen erkannt haben, denn sie lächelten zurück.
    Oben auf dem Podium sprachen Leute über Terrorismus und von den Selbstmordattentätern, die U-Bahnen und einen Bus in die Luft gejagt hatten. Ich wollte nichts davon hören. Ich wollte nicht darüber nachdenken, warum sie das getan hatten, was sie getan hatten, denn egal wie sehr ich darüber nachdenke, macht es doch niemals irgendeinen Sinn oder einen Unterschied, und es macht mich nicht weniger wütend oder krank. Dann hörten die Politiker auf zu reden, und es standen Leute auf – einer nach dem anderen –, um über diejenigen zu reden, die gestorben waren. Ich stand in der Nähe der Bühne und hörte zu.
    Dann war Mum an der Reihe. Sie stand vor all diesen Fremden, aber auch vor den alten Freunden der Familie. Die Haywoods saßen zusammen, Katherine hielt Mark fest umarmt. Lucy lächelte zu mir herüber. Mrs Haynes und Ms Bloxam waren mit einer Gruppe von anderen Lehrern von meiner Schule da, und die giftige Mrs Haynes nickte mit Tränen in den Augen zu mir herüber. Neben ihnen stand Rosa-Leigh, inklusive ihrer ganzen Familie, und mit Kalila. Rosa-Leigh winkte, genau wie Joshua, ihr ältester Bruder. Ein Stück daneben stand Abigal mit Zara. Ich lächelte sie an, dann drehte ich mich zurück zu Mum, die alleine da oben stand.
    Mum schien etwas sagen zu wollen, aber dann blieben ihr anscheinend die Worte im Hals stecken, denn sie deutete auf Emilys Baum und begann zu weinen. Ich weiß nicht, was in mich fuhr. Ich sah sie da ganz alleine stehen, und da drängte ich mich an den Leuten vor mir vorbei, ging hinauf und stellte mich neben Mum. Ich sagte: »Ohne Emily ist es manchmal schwer für Mum und mich, uns daran zu erinnern, dass wir immer noch uns beide haben.« Ich legte meine Hand in ihre und sie drückte sie fest.
    Und dann wechselten wir uns beide darin ab, all diesen Leuten von meiner Schwester zu erzählen. Wahrscheinlich war es nicht die beste Rede auf der Welt. Aber für mich fühlte es sich so an. Und am Schluss sagte ich: »Ich möchte noch etwas vorlesen.«
    Mein Herz klopfte, aber ich zwang mich dieses Gedicht vorzulesen. Ich habe am Schluss noch einen Vers hinzugefügt; ich finde es besser so.
    Die Äste der Bäume
Nackt stehen sie da
Mit Ringen an den Fingern
Und Knoten im Haar
    Das Silber des Winters
Ist rauchig vor Regen
Die Hexen des Sonnenlichts
Fliegen tief, auf andern Wegen
    In einer Pfütze von Grau
Sich der letzte Sommer verbirgt
Nichts schwimmt mehr darin
Und meine Schwester stirbt
    Schwer ist der Frühling
Mit dem was einst war
Doch sie ist stets bei mir
Strahlend und unsichtbar.
    Ich sah in die Menge. Manche der Leute hatten Tränen auf den Wangen oder Taschentücher vors Gesicht gepresst. Dann sah ich zu Mum. Sie blickte mich an, und ihre Augen glänzten wie Seifenblasen, die ein Kind vorsichtig dahingepustet hat.

Mittwoch, 12. Juli
    Nach der Schule ging ich zu Koreen, der neuen Therapeutin. Ich erzählte ihr, dass Lynda mir ein Notizbuch gegeben hatte, in das ich hineinschreiben sollte, und dass ich fast jede Seite gefüllt hätte. Koreen sagte, sie würde mir ein neues besorgen, damit ich weiterschreiben könnte. Ich bedankte mich, und sagte ihr, ich könnte mir mein eigenes kaufen.
    Wir redeten über Panikattacken, über Emily und die Gedenkfeier, und über meine Mum. Und dann begann ich, über den Bombenanschlag zu reden und wie es an diesem Tag
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