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Vor meinen Augen

Vor meinen Augen

Titel: Vor meinen Augen
Autoren: Alice Kuipers
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wünschte, Robin wäre nicht da gewesen, denn irgendwie fühlte ich mich ihr zum ersten Mal seit langem nahe. Doch er war da, und er fing an Geschichten darüber zu erzählen, wie sie kein Geld gehabt hatten und oft am Straßenrand schlafen mussten. Dann ging er in die Einzelheiten über einen Tag in Nepal, als man ihn überfallen hatte. Ich wollte die beiden am liebsten wütend fragen, warum ich nie zuvor von Robin gehört hatte. Doch ich hörte nur zu und sah mir die Bilder an. »Warum haben wir uns denn vorher nie kennengelernt?«, platzte ich schließlich heraus.
    Mum sagte: »Robin kam als ein Freund erst wieder in mein Leben sechs Monate bevor Emily starb.«
    Das war das erste Mal, dass ich sie das aussprechen hörte. Dass Emily gestorben ist. Es erwischte mich wie ein Schlag in die Magengegend, dass sie es so sagte, es erwischte mich, als ob mich jemand nach hinten wegzöge.
    Ich wollte schon antworten, da klingelte mein Handy. Es war ABIGAIL. Sie fragte, ob ich nicht Freitagabend vielleicht zu ihr kommen wollte. Und auch, wenn wir uns in letzter Zeit so entfremdet haben, weiß ich, dass ich ihr mit dieser Bulimie-Sache helfen muss, also sagte ich ja.
    Ich wollte sie fragen, wie es ihr geht, aber sie hatte nicht viel Zeit. Als ich auflegte, sah Mum auf ihre Uhr und sagte, sie müssten los. Sie hatten sich mit Freunden verabredet. Es war keine Zeit mehr für weitere Fragen. Sie sah mich an, als hätte sie ein schlechtes Gewissen oder so was, aber ich lächelte sie so halb an, damit sie wusste, dass es für mich kein Problem war, dass sie wegging.
    Ich liege hier und versuche, mir Mum und Robin mit ihren Freunden in irgendeinem Pub oder sonst wo vorzustellen, und ich merke, ich kann sie mir gar nicht alle vorstellen. Ich kann mich nicht mehr erinnern, wie Robin aussieht, obwohl ich ihn erst heute gesehen habe.
    Ich möchte morgen nicht zur Schule gehen. In der ersten Stunde habe ich Kunst. Ich wünschte, ich hätte es nicht gewählt. Ich bin die schlechteste »Künstlerin« auf der ganzen Welt.

Donnerstag, 8. Juni
    Mum hat mich dazu gedrängt, mit ihr heute Abend zu diesem Boxercise-Kurs zu gehen. Bisher hatte sie es nicht einmal erwähnt, aber sie will, dass wir es zusammen ausprobieren. Sie dachte, es wäre gut für uns .
    Wir kamen dort an, und Mum sagte unverbindlich-freundlich hallo zu ein paar anderen Frauen, die in der schlecht erleuchteten großen Turnhalle herumstanden, und mir wurde klar, dass sie schon mal hier gewesen sein musste. Der Lehrer kam herein: Ein sehr großer Mann namens Wayne. Er gab uns riesige Handschuhe und zeigte uns ein paar Bewegungen.
    Wir mussten Paare bilden und unseren Partner treffen – na ja, nicht richtig schlagen, aber dieses rote gepolsterte Ding treffen, das unser Partner hielt. Mum war meine Partnerin und sie konzentrierte sich richtig auf die Bewegungen. Sie lachte sogar einmal. Irgendwie machte es Spaß.
    Dann, auf dem Heimweg im Auto, wünschte ich mir plötzlich so sehr, Emily wäre da, dass mein Herz schmerzte. Ich drehte den Kopf und sah aus dem Fenster, während die verlassenen Straßen vorbeirauschten.

Freitag, 9. Juni
    Heute schrieb ich Eleanor Summerfield in der Bowood Road einen Brief. Ich entschuldigte mich dafür, dass ich sie belästigt hatte. Als ich den Brief beendet hatte, ging ich ihn einwerfen und fühlte mich kurzzeitig froh und glücklich. Es ist schon so lange her, dass ich froh war, dass ich das Gefühl kaum erkannte – dann bekam ich ein schlechtes Gewissen, weil ich froh und glücklich gewesen war. Und ich war verwirrt.
    Ich gehe jetzt gleich zu Abigail. Robin fährt mich hin, was eigentlich ganz nett von ihm ist.

    Als ich zu Abigail kam, war ihr Bruder zu Hause. Er zog mich ins Wohnzimmer, noch bevor Abi überhaupt mitbekommen hatte, dass ich da war. Er fragte: »Was ist denn mit Abigail los? Sie sieht ja furchtbar aus.«
    Ich wollte nichts sagen – sie irgendwie nicht verraten –, also wechselte ich das Thema: »Ich wusste gar nicht, dass du zu Hause bist.«
    »Sophie, sie ist so dünn.« Er starrte mich an.
    »Es ist alles okay.«
    »Was ist denn los mit ihr? Du musst es doch wissen.«
    »Wir sehen uns im Moment nicht mehr so oft«, sagte ich.
    »Sophie«, bat er.
    Er sah so verzweifelt aus, ich musste es ihm einfach sagen. Leise sagte ich: »Ich glaube, sie hat Bulimie.«
    Er überlegte. »Wenn man das Essen wieder erbricht? Meinst du das?«
    Ich nickte.
    »Warum hast du denn nichts unternommen? Oder irgendwas gesagt?«
    »Ich
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