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Der Mond im See

Titel: Der Mond im See
Autoren: Danella Utta
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    Tante Hille erschien mir erstmals wieder im Traum. Ich will nicht gerade sagen, daß es ein Alptraum gewesen wäre. Aber immerhin ein Angsttraum.
    Ich war, wie ehedem, ein kleiner Junge, ich stand auf einem der grünen Sessel im grünen Salon und haschte verzweifelt nach dem Flieger, der mit lautem Surren unerreichbar hoch über mir seine Kreise zog. Den Flieger hatte ich aus der Ernennungsurkunde von Urgroßpapa Gemeindepräsident gebastelt, und es war mir klar – im Traum, versteht sich –, daß das eine unerhörte Missetat war und daß ich das Ding fangen, auseinanderfalten, sorgfältig glattstreichen und wieder an seinen angestammten Ehrenplatz hinter Glas auf der Nußbaumvitrine unterbringen mußte. Aber ich konnte das verflixte Ding nicht fangen. Mitten in mein Bemühen hinein platzte Tante Hille, was ganz selbstverständlich war, denn es war mir nie, fast nie, gelungen, irgendeine strafbare Handlung zu begehen, ohne von ihr früher oder später dabei ertappt zu werden. Ich stand auf dem Sessel, sie davor, klein, drahtig, energisch, die Stirn über den klaren braunen Augen unheilvoll gerunzelt.
    »Was ischt das?«
    Ich zog den Kopf zwischen die Schultern, fest entschlossen, nicht zu gestehen, daß es sich um ein ehrwürdiges Dokument handelte, das da oben unter der Zimmerdecke immer schneller, immer lauter seine Kreise zog. Sssss! Sssss! Wenn sie entdeckte, was es war, setzte es unweigerlich ein oder mehrere Datscherli, wie sie es nannte, wobei es sich keineswegs um Datscherli handelte, sondern um ausgewachsene Ohrfeigen von einer recht kräftigen Hand.
    Damit war sie sehr freigebig. Als ich klein war, begann ich jedesmal lauthals zu plärren, später dann schluckte ich, ballte die Fäuste und verzog mich, je nach Jahreszeit, entweder in die hinterste Ecke des Gartens oder in das Apfelkammerli unter der Treppe. Und haßte Tante Hille eine Weile aus tiefstem Herzen. Bis Maman mich fand, in die Arme schloß, küßte und streichelte und liebevolle Worte dabei murmelte. Was ich als größerer Junge ebensowenig leiden mochte wie die Datscherli.
    Aber zurück zum Traum. Tante Hille starrte zur Decke hinauf, dann auf mich, dann wieder zur Decke, und voilà, wie konnte es anders sein, da hatte sie den leeren Fleck unter dem Glas entdeckt und messerscharf kombiniert, daß es die Urkunde war, die da oben surrte.
    »Du bischt ein ganz ungezogener Bub! Jetzt gib acht, wie es dir ergeht.« Sie zog mich am Arm energisch vom Sessel herunter, holte aus – und ich erwachte.
    Im ersten Moment war ich erleichtert. Als dreißigjähriger Mann hat man es nicht gern, von einer alten Tante geohrfeigt zu werden, nicht einmal im Traum. Dann hörte ich, daß das Surren immer noch da war. Natürlich – da hatte sich wieder so ein Biest unter das Netz verirrt. Darum also der Schreckenstraum. Und heiß war es wieder! Nahm dieser Monsun nie ein Ende? So widerlich wie diesmal war er mir noch nie vorgekommen. Mein Körper war schweißnaß, die Luft im Zimmer schwer von Feuchtigkeit.
    Mit einem Fluch sprang ich aus dem Bett und machte mich daran, den Moskito zu erschlagen. Dann tappte ich hinaus in die Pantry, um mir etwas Kaltes aus dem Kühlschrank zu holen. Der Doktor sagte zwar immer, man solle nicht so viel trinken, das erhöhe nur den Schweißausbruch, aber hol's der Teufel, ich war kein Märtyrer, und wenn mir die Zunge am Gaumen klebte, dann trank ich eben.
    Ich zündete mir eine Zigarette an, wohl wissend, daß es ebenfalls sehr ungesund war, mitten in der Nacht zu rauchen. Aber was bedeutete Trinken und Rauchen gegen dieses verfluchte Klima hier. Das war bestimmt das ungesundeste von allem. Wieder wie so oft bewunderte ich im stillen die Briten, die es hier so lange ausgehalten hatten, ohne air-condition, ohne Kühlschränke, ohne – mochte der Himmel wissen, was es in ihrem prächtigen Kolonialreich im vergangenen Jahrhundert alles nicht gegeben hatte.
    Ich lauschte gewohnheitsmäßig in die Nacht hinaus. Tiefe Stille. Friede. Oder zumindest scheinbarer Friede. Seit dem Aufstand und den bösen Schlachten zwischen Mohammedanern und Hindus vor einigen Monaten traute ich dem Frieden nicht mehr. Irgendwo schnitten sie sich immer die Kehlen durch. So wie sie Tahoj, meinem Lieblingsboy, die Kehle durchschnitten hatten. Tahoj, sanftäugig, gutwillig, fleißig, immer bemüht, mir jeden Wunsch von den Augen abzulesen – und dann lag er am Morgen vor meiner Schwelle, ausgeblutet und stumm. Den Anblick konnte ich nicht
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