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Der Mond im See

Titel: Der Mond im See
Autoren: Danella Utta
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Annabelle wiedersah? An nichts, an gar nichts. Nur daran, sie in die Arme zu nehmen und zu küssen und festzuhalten. Sie zu besitzen. Ja, ganz klar herausgesagt, sie endlich besitzen. Annabelle, die längst die Frau eines anderen war.
    »Noch einen«, sagte ich mürrisch zu dem Boy und gab ihm mein leeres Glas.
    Nach einer Weile kam Karin Thaler aus dem Nebenraum von ihrer Bridgerunde.
    »Fertig für heute?« fragte ihr Mann.
    Sie nickte. »Ja. Ich kann mich sowieso nicht konzentrieren. Diese Luft …«
    Sie sah schlecht aus, müde und älter als sonst, ein paar Linien im Gesicht, die ich noch nie gesehen hatte. Aber sie lächelte mir zu. »Na, Walter, so nachdenklich?«
    »Er macht im Geist Europa unsicher und trifft gerade seine Wahl unter den Töchtern des Landes«, mokierte sich Thaler.
    »Hoffentlich nicht gerade während seines Urlaubs«, meinte sie. »Da wählt man meist daneben. Die Zeit ist zu kurz und der Eifer zu groß. Das haben wir hier schon öfter erlebt.«
    »Na, du mußt es ja wissen«, meinte ihr Mann trocken. »Ich habe dich ja schließlich auch während meines ersten Fronturlaubs kennengelernt.«
    Sie stand neben seinem Sessel, legte ihm die Hand auf die Schulter und lächelte auf ihn herab. Ein warmes, zärtliches Lächeln. Auf einmal sah sie wieder viel jünger aus.
    Er schaute zu ihr hinauf und lächelte auch. Und war nicht mehr ein müder, frühverbrauchter Mann, dem das Leben wenig Chancen geboten hatte. Er war, so schien es mir, ein glücklicher Mann.
    »Gehen wir?« fragte sie.
    Er nickte und stand auf.
    Ich erhob mich ebenfalls, und als sie mir die Hand gab, beugte ich mich herab und küßte ihre Hand. Eine schmale feste Hand mit langen sensiblen Fingern. Sie hob überrascht die Brauen und errötete sogar ein wenig. Wir waren sonst keine besonderen Kavaliere hier draußen.
    Als sie fort waren, setzte ich mich nieder und machte mich über meinen neuen Whisky her. Die anderen waren in eine laute Debatte vertieft. Ingenieur Schneider führte das große Wort. Sein Lieblingsthema. Was für ein Unsinn es sei, Indien die Errungenschaften des zwanzigsten Jahrhunderts aufzuzwingen, da es geistig noch im fünfzehnten lebte.
    »Sie können die Zeit nicht überspringen. Sie müssen sich entwickeln wie alle anderen. Wir haben auch Jahrhunderte gebraucht, bis wir moderne Menschen waren. Vor dreihundert Jahren haben wir auch noch wegen der Religion Kriege geführt. Und haben Hexen verbrannt. Und Zauberformeln gelernt. Es braucht seine Zeit. Auch ein Kind ist nicht in drei Jahren erwachsen.
    Solange sie sich umbringen, weil sie an verschiedene Götter glauben – solange sie diese scheußlichen Bräuche und diesen furchtbaren Aberglauben haben, auch die Gebildeten unter ihnen, auch die, die etwas gelernt haben, solange sind wir einfach lächerlich mit unserer Technik hier.«
    Und Tillessen dagegen: »Die Erde ist zu klein geworden. Die Technik reicht überallhin, man kann keinen Fleck aussparen und warten, bis er sich nachentwickelt. Wir müssen ihnen helfen bei dieser Entwicklung. Wir müssen sie beschleunigen. Das ist unsere Aufgabe. Und nicht nur, soweit es die Technik betrifft.«
    »Sie haben ja gesehen, wie weit wir damit gekommen sind. Hier im Schatten von einem der modernsten Stahlwerke, das die Welt kennt, haben sie sich noch vor einigen Wochen hingemetzelt. Und daß sie uns nicht auch massakriert haben, wundert mich heute noch. Aber dann vielleicht beim nächsten Mal.«
    Ich kannte diese Gespräche. Ich hatte mich oft genug daran beteiligt. Drei Jahre war ich jetzt hier. Aber Indien blieb mir so unverständlich wie am ersten Tag. Man konnte es vielleicht beherrschen, wie Großbritannien es beherrscht hatte. Aber man konnte es nicht verstehen.
    Heute hatte ich keinen Spaß an der Diskussion. Mich interessierten weder die indischen noch die deutschen Religionskriege. Ich dachte an meinen Urlaub. Und seit dem Traum vor ein paar Tagen an Tante Hille. Und an Annabelle.
    Ja. Am meisten an Annabelle.
    An einem kühlen Tage Anfang Mai landete ich auf dem Flugplatz München-Riem. Es regnete in Strömen. Ich fröstelte in meinem dünnen Trenchcoat, aber ich fand den Regen und die Kühle herrlich. Als ich mein Gepäck hatte, trug ich es vor das Portal, setzte es dort nieder und ging – die Hände in den Taschen – einigemal vor dem Flughafengebäude hin und her, ohne Hut, das Gesicht nach oben gekehrt, damit es möglichst viel von dem wundervollen Naß abbekam.
    Mitteleuropäischer Regen, kühl,
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