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Die verborgene Seite des Mondes

Die verborgene Seite des Mondes

Titel: Die verborgene Seite des Mondes
Autoren: Antje Babendererde
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1.

    T ränen kamen schon seit einer Weile nicht mehr. Mit trockener Kehle schluchzte Julia in das Kissen auf ihrem Bett. Ihr ganzer Kör per tat weh vor Kummer und dem heftigen Wunsch die Zeit zurück zudrehen, nur für ein paar Stunden. Aber sie wusste, dass das unmöglich war.
    Manche Dinge sind unwiderruflich. Unfassbar und doch für im mer.
    Ihr Vater war tot. Ein betrunkener Autofahrer hatte ihn am hell lichten Tag auf einer Landstraße überfahren. Seine Verletzungen waren so schwer gewesen, dass sein Herz auf dem Weg ins Kran kenhaus aufgehört hatte zu schlagen. Julia und ihre Mutter Hanna waren eben erst von dort zurückgekommen. John hatte ganz fried lich ausgesehen, so, als würde er schlafen. Aber das tat er natürlich nicht. Julia war fünfzehn und kannte den Unterschied zwischen schlafen und tot sein. Der Tod war unwiderruflich.
    Nur allmählich drang die Tatsache, dass ihr Vater gestorben war, zu ihr durch. Julia wünschte, auch ihr Herz würde aufhören zu schla gen, damit sie nicht mehr denken musste, nicht mehr fühlen. Alles war ihr zu viel, sogar das Atmen. Doch der Muskel in ihrer Brust schlug kraftvoll weiter, ihrem Wunsch zum Trotz.
    Die Vorhänge in ihrem Zimmer waren zugezogen. Der Mai ging zu Ende und draußen schien warm die Sonne. Julia hörte das fröhliche Geschrei der Kinder auf dem Spielplatz hinter dem Haus. Voller Ver zweiflung hielt sie sich die Ohren zu. Sie wollte nichts hören, nichts mehr sehen. Schon gar nicht das Licht der Sonne.
    Ihr Vater hatte heiße Sommer geliebt, denn er war in der Halbwüste Nevadas aufgewachsen. Und weil nach vielen dunklen Regenta gen zum ersten Mal wieder die Sonne schien, war er am Morgen aus der Stadt geflüchtet, um in den kastanienbewachsenen Hügeln wandern zu gehen.
    Dort war er nie angekommen.
    Irgendwann fehlte Julia die Kraft, sich die Ohren zuzuhalten. Ge dämpfte Stimmen drangen aus dem Flur in ihr abgedunkeltes Zim mer. Irgendwer sprach mit ihrer Mutter. Die Tür ging auf, aber Julia wollte nicht wissen, wer hereingekommen war. Sie wollte in Ruhe gelassen werden, sich in den Kokon ihrer Trauer einspinnen.
    Jemand setzte sich auf ihr Bett. Eine Hand strich tröstend über ih re Schultern, ihren Kopf. Julia spürte, wie ihr Körper sich verkrampf te. Sie wollte nicht berührt werden. Sie rutschte zur Seite und setz te sich auf, das Kissen wie ein Schutzschild vor ihrem Körper. Ihre Großmutter war gekommen, Hannas Mutter.
    »Julia«, sagte sie, »es tut mir so leid.«
    Julia mochte ihre Großmutter, aber die hatte ihren Vater nicht ge mocht.
    »Warum musste es ausgerechnet ein Indianer sein, Hanna?«, hatte sie bei jeder Gelegenheit zu ihrer Tochter gesagt. Zum Beispiel, wenn John mal wieder nicht pünktlich nach Hause gekommen war, obwohl Hanna und er zusammen ausgehen wollten. Warum musste es ausgerechnet ein Indianer sein?
    Julias Vater John Temoke war vom Volk der Western Shoshone, die in Zentralnevada beheimatet sind. Julia wusste, dass ihr Vater sein Land und sein altes Leben vermisst hatte. John hatte nie ge klagt, aber man konnte seine Sehnsucht in den Bildern erkennen, die er gemalt hatte. Und manchmal war diese Sehnsucht auch in sei nem Blick gewesen. Ein Blick der oft weit fort schweifte, an einen Ort fern wie der Mond.
    Julia hatte gedacht, dass sie keine Tränen mehr hätte, doch ohne Vorwarnung schossen sie in ihre Augen und machten sie blind. Ihr Körper wurde von neuen, rauen Schluchzern geschüttelt. Sie würde ihren Vater nie wieder lachen hören, ihn nie wieder um Rat fragen können, nie wieder mit ihm durch den Wald streifen, nie wieder in seinen Armen Trost finden.
    Nie wieder würde jemand sie Vogelmädchen nennen.
    Dieses Nie wieder beherrschte Julia vollkommen. Bis dahin hatte sie nicht gewusst, was Verlust eigentlich bedeuten konnte.
    Nach einer Weile stand die Großmutter kopfschüttelnd auf und verließ das Zimmer, ohne die Tür zu schließen. Julia lauschte einen Moment auf die Stimmen ihrer Mutter und ihrer Großmutter in der Küche. Dann verließ sie ihr Bett, schlich aus dem Zimmer und ging über den Flur zu der schmalen Treppe, die zur Dachkammer hinauf führte.
    Terpentingeruch hüllte sie ein, als sie das kleine Atelier ihres Va ters betrat. Das helle Sonnenlicht, das durch die schrägen Dachfens ter fiel, tat ihr in den Augen weh. Sie schloss die Tür hinter sich und drehte den Schlüssel herum. Niemand sollte sie stören. Julia wollte allein sein mit den Bildern ihres Vaters. Denn hier war er noch da,
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