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Der Mond im See

Titel: Der Mond im See
Autoren: Danella Utta
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vergessen. Sein einziger Fehler: Er hatte in den Augen der anderen die falsche Religion gehabt. Religionskämpfe im zwanzigsten Jahrhundert! Aber hier war eben kein zwanzigstes Jahrhundert, auch wenn wir ihnen ein Stahlwerk nach den modernsten und fortschrittlichsten Erkenntnissen des zwanzigsten Jahrhunderts aufgebaut hatten. Tagelang hielt das Morden in der Siedlung an. Den Europäern geschah nichts, obwohl wir das Schlimmste befürchteten. Wir hatten die Frauen und Kinder im Club und in einigen größeren Bungalows untergebracht und bewachten sie Tag und Nacht. Bis Regierungstruppen kamen und die Ordnung wiederherstellten. Oder jedenfalls so etwas Ähnliches wie Ordnung. Die Produktion wurde wiederaufgenommen. Wir betranken uns einige Tage lang im Club, um die furchtbaren Bilder zu vergessen. Ich bekam einen neuen Boy. Es herrschte Ruhe bis zum nächsten Mal.
    Indien! Was für ein Land! Viel zu groß, um es zu begreifen. Viel zu groß, um es zu kultivieren. Und wir hier in Rourkela, was taten wir – was konnten wir tun? Unsere Arbeit, sonst nichts. Unsere Arbeit, für die man uns hierhergeschickt hatte und großzügig bezahlte. Wenn meine Zeit zu Ende sein würde, in zwei bis drei Jahren – Himmel und Hölle – freute ich mich auf Europa.
    Und es würde gar nicht so lange dauern, bis ich es wiedersah. Ein paar Monate noch, dann hatte ich Urlaub. Viele, viele lange Wochen Europaurlaub. Aber dann –
    Die Welt würde mir gehören. Oder zumindest Europa. – Komisch, dieser Traum. Wie lange hatte ich nicht mehr an Tante Hille gedacht? Wie lange ihr nicht mehr geschrieben? Zu Weihnachten das letzte Mal. Es war eine Schande. Ihren Geburtstag hatte ich auch vergessen.
    Und nun nicht mehr im Traum, sondern bei klarem Bewußtsein, sah ich die alte Dame deutlich vor mir. Bis zur Schulter ging sie mir jetzt. Ihr Haar war weiß gewesen, als ich sie das letzte Mal gesehen hatte. Vielleicht lebte sie gar nicht mehr. Hatte ich am Ende deswegen von ihr geträumt, weil sie gestorben war? Spukte sie jetzt in meinen Nächten herum? Das traute ich ihr ohne weiteres zu. Da wäre also der letzte Mensch gestorben, der zu mir gehörte. Mein Vater im Krieg gefallen, ich kannte ihn nur als vage Erinnerung. Maman gestorben, als ich fünfzehn war. Ausgelöscht wie ein müdes kleines Flämmchen.
    Was für blödsinnige Nachtgedanken! Ich war wirklich reif für den Urlaub. Ich schenkte mir noch einen doppelten Whisky ein, und dann wollte ich schlafen. Ohne Moskitos, ohne Urkunde, an der Decke kreisend, und ohne Tante Hille.
    Immerhin wirkte der Traum so nach, daß ich einige Tage später einen Brief an Tante Hille schrieb. Mir gehe es gut, kommendes Frühjahr hätte ich Urlaub, und dann würde ich sie besuchen. – Doch, das hatte ich mir fest vorgenommen. Acht bis zehn Tage würde ich bei ihr bleiben. Das genügte. Denn ich hatte viel vor in meinem Traumurlaub. Erst nach München zur Firma, dann einen flotten kleinen Wagen kaufen, und dann, gut, bitte schön, würde ich in die Schweiz fahren zu Tante Hille, in das komische alte Haus, in dem ich den größten Teil meiner Kindheit verbracht hatte.
    Aber dann – dann ging das große Leben los. Zuerst vielleicht zum Genfer See, dann in einem Rutsch zur französischen Riviera und dort ein paar großartige Wochen verbracht. Ehe die große Hitze kam. Darauf legte ich keinen Wert. Hitze hatte ich hier genug genossen. Wieder nach Norden, mal eben schnell nach Paris, dann vielleicht an die holländische Küste, möglicherweise auch an die Nordsee. Wir hatten einen jungen Ingenieur vor ein paar Monaten herbekommen, der erzählte tolle Geschichten von der Insel Sylt. Wer dort etwas auf sich hielt, lief nackt herum. Und gelegentlich seien ein paar gutgewachsene Mädchen darunter, die das Anschauen wert seien. Das durfte ich mir nicht entgehen lassen.
    Überhaupt Mädchen! Frauen! Europäische Frauen mit langen Beinen und heller Haut, möglichst blond und blauäugig. Am besten fuhr ich gleich nach Schweden weiter, da gab es so was massenhaft. Ein Urlaub würde das werden!
    Abends im Club schwärmte ich davon. Meine jungen Kollegen bekamen träumerische Augen. Und gaben sehr realistische Kommentare dazu. Thaler, der Leiter vom Kraftwerk, ein stämmiger Mann Ende fünfzig, lächelte nachsichtig.
    »Dann sehe ich Sie schon mit einer Ehefrau hier ankommen. Passen Sie auf, Ried, das geht schnell.«
    »Bei mir nicht. Ich heirate erst, wenn ich hier unten fertig bin. Wenn ich ganz wieder zu Hause bin
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