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Vor meinen Augen

Vor meinen Augen

Titel: Vor meinen Augen
Autoren: Alice Kuipers
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erinnere, ist sie so viel mehr als nichts.

    Mum kam gerade herein. Sie sagte zu mir: »Ich hab dich lieb, Sophie. Vergiss das nie.«
    Ich tat, als schliefe ich. Sie machte das Licht aus.

Montag, 29. Mai
    Abigail sieht richtig krank aus. Sie ist unglaublich dünn. Es ist so offensichtlich, dass sie ihr Essen wieder erbricht. Ich kann nicht fassen, dass ich es vorher nicht gemerkt habe – und dass ich seit dem Tag, an dem ich es herausfand, nichts unternommen habe. Ich weiß, ich sollte etwas tun, aber es kommt mir vor, als befänden wir uns auf zwei verschiedenen Seiten eines riesigen Flusses, und der Fluss ist so groß, dass ich nicht zu ihr schwimmen kann, auch wenn ich es möchte. Morgen haben wir für den Rest der Woche Halbjahresferien. Ich denke, ich nutze die Pause von den Hausaufgaben dafür, mir zu überlegen, wie ich ihr helfen könnte.

Freitag, 2. Juni
    Ich ging zu einem Termin bei der neuen Therapeutin, derjenigen, die Lynda für mich organisiert hat. Sie ist groß, schlank und schwarz und sieht überhaupt nicht wie Lynda aus. Ihr Name ist (Professor) Koreen Sinclair. Sie streckte mir die Hand entgegen und sagte: »Hallo. Mach es dir bitte bequem.«
    Sie ist nicht nervig oder gönnerhaft oder hat diesen treuherzigen Welpenblick wie Lynda. Sie ist fest und geradlinig. Ich mochte sie auf Anhieb.
    Sie sagte: »Also, vielleicht fängst zu einfach an, mir zu erzählen, was dich zu mir führt?«
    Es ist so peinlich, aber ich brach auf der Stelle in Tränen aus. Ich weinte, als ob ein riesiger Wasserschwall aus einer Leitung tief in mir herausbräche. Dann, nachdem sie mir ein Taschentuch gereicht hatte, fing ich an zu reden. Und ich hatte gerade erst angefangen, als ich anfing, dieses entsetzliche Klopfen meines Herzens zu hören »O Gott, tut mir leid«, sagte ich. Übelkeit durchfuhr mich und ich schnappte nach Luft. »Ich … bekomme einfach keine Luft …«
    Sie sah mich an, als sei dies völlig normal und sagte: »Weißt du, was eine Panikattacke ist?«
    Ich schüttelte den Kopf und versuchte zu sprechen. Es dauerte einen Moment, bis die Worte herauskamen. »Ich habe im Internet gesucht und überlegt, ob es das ist, was ich habe. Aber es scheint, als ob so etwas nur, ich weiß nicht, irgendwie schwachen Leuten passiert.«
    Sie schüttelte den Kopf. »Hol tief Luft. Fühlst du dich jetzt besser?«
    Zum ersten Mal seit langer Zeit war ich ehrlich. »Nein, überhaupt nicht.«
    »Panikattacken sind kein Zeichen von Schwäche. Eine Panikattacke ist eine normale körperliche Reaktion, die zur falschen Zeit erfolgt. Verstehst du das?«
    »Nicht wirklich.«
    »Stell dir einen riesigen Adrenalinstoß vor. Wenn du diesen Adrenalinstoß zur richtigen Zeit hättest, würde es dir überhaupt nicht merkwürdig vorkommen.« Ihre Stimme war so ruhig, dass sie mich an warme Milch denken ließ.
    »Wann wäre denn die richtige Zeit?«
    »Wenn zum Beispiel ein kleiner Junge vor ein Auto liefe und du müsstest ihn retten. Dein Herz würde schneller schlagen, die Geräusche wären lauter, die Farben kräftiger, dein Verdauungssystem würde Pause machen, damit mehr Energie für die Rettung dieses Jungen zur Verfügung stünde.«
    »Aber ich musste ja gar niemand vor einem Auto retten.«
    »Und deshalb fühlt es sich auch so furchtbar an. Wenn du in Panik bist, hast du all diese Reaktionen – richtige Reaktionen – zur falschen Zeit. Wir werden darüber noch genauer reden. Es wird eine Weile dauern.«
    Ich nickte. Blieb ruhig. Atmete wieder gleichmäßig. Spürte, wie mein Herzschlag sich normalisierte. Sie lächelte. Bat mich, nächste Woche wiederzukommen.
    Als ich aus ihrem behaglichen Raum kam, fühlte ich mich ein wenig anders. Klarer.

12  Doch sie ist stets bei mir
Strahlend und unsichtbar

Sonntag, 4. Juni
    Ich kam von einem Spaziergang nach Hause. Robin und Mum saßen zusammen da und sahen sich Fotos an. Ich beugte mich vor. Es waren Bilder von ihnen, als sie ungefähr neunzehn waren, sich umarmten, auf seinem Motorrad saßen und insgesamt recht glücklich aussahen. Ich fragte: »Wann habt ihr beide euch denn kennengelernt?«
    Mum warf Robin einen kurzen Blick zu und lächelte mich dann an. »In der Schule waren wir zusammen. Mit einundzwanzig reisten wir dann auf seinem Motorrad nach Kalkutta.«
    Ich war so verblüfft, dass ich gar nicht wusste, was ich sagen sollte. Ich hatte nicht einmal gewusst, dass Mum in Indien gewesen war. Sie zeigte mir Fotos von sich an diesen verrückten, wundervollen Orten. Ich
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