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Jürgen Bartsch - Selbstbildnis eines Kindermörders

Jürgen Bartsch - Selbstbildnis eines Kindermörders

Titel: Jürgen Bartsch - Selbstbildnis eines Kindermörders
Autoren: Paul Moor
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1  Vorwort
    Mensch bin ich, nichts Menschliches
    ist mir, glaub’ ich, fremd.
    Terenz: Heauton timorumenos
     
    Im Juni 1966 lebte ich schon siebzehn Jahre in Europa, fünfzehn Jahre in Deutschland und zehn Jahre (als Korrespondent der amerikanischen Zeitschriften
Time
und
Life
und als Mitarbeiter von CBS, dem Radiosender Columbia Broadcasting System) in Berlin. Sieben Tage in der Woche las ich frühmorgens einen ganzen Stapel von Zeitungen aus Ost und West. Im Juni 1966 erschienen auf Seite eins fast jeder Zeitung in der Bundesrepublik und West-Berlin besonders ausführliche Berichte über die Verhaftung eines neunzehnjährigen Metzgergesellen namens Jürgen Bartsch in Langenberg bei Essen.
    Am Dienstag, dem 21.   Juni, hatte ihn die Langenberger Polizei verhaftet. Bis dahin hatten seine Mitmenschen wenig Notiz von Jürgen Bartsch genommen; in der Siedlung «Glaube und Tat», wo er und seine Eltern wohnten, war er nie aufgefallen, weil er – wie seine Eltern – einen langen Arbeitstag und wenig Freizeit hatte. Buchstäblich über Nacht wurde Jürgen Bartsch nun als «der Kirmesmörder» einer der bekanntesten Menschen der Bundesrepublik. Zum Beispiel berichtete die
Frankfurter Allgemeine Zeitung:
    «Der neunzehnjährige Metzgergehilfe Jürgen Bartsch aus Langenberg hat gestanden, in den Jahren von 1962 bis 1966 vier schulpflichtige Jungen mißbraucht und ermordet zu haben. Gegenüber dem ersten gab sich Bartsch am 31.   März 1962 auf dem Kirmesplatz in Essen-Huttrop als Detektiv aus. Er versprach dem Jungen einen Auftrag, den er bezahlen wollte. In einem Stollenerschlug er das Kind mit einer Schreckschußpistole, die er später fortwarf. Die Leiche verscharrte er im Stollen. Erst am 5.   August 1965 will der ‹Kirmesmörder› sein nächstes Opfer gefunden haben. Bartsch berichtete, er habe den Jungen mit nach Langenberg genommen. Unweit vom Stollen hielt er an und fesselte den Jungen, ehe er ihn schließlich im Stollen erwürgte. Die Leiche verscharrte er erst am 14.   August 1965 mit dem leblosen Körper seines nächsten Opfers. Dieses Kind wurde von Bartsch ebenfalls im Lieferwagen vom Kirmesplatz zu dem Stollen transportiert, hier dann mit Steinbrocken erschlagen. Einen vierten Jungen erwürgte Bartsch in dem Stollen. Seine Leiche verscharrte er nur oberflächlich und bedeckte sie mit Steinen und Holzbalken. Obenauf legte er die Kleider seines Opfers.»
    Ich weiß nicht mehr, wie viele solche Berichte über Jürgen Bartsch ich an jenem Dienstag in meinen Zeitungen las. Je mehr ich las, desto unfaßbarer wurde mir der Fall psychologisch. Da wurde in allen Blättern über ein anständiges, fleißiges Ehepaar berichtet, in dessen Haus das arme Waisenkind Jürgen das große Glück gehabt hatte, ein Zuhause zu finden, wo ihn seine biederen katholischen Adoptiveltern mit Stofftieren, Plattenspieler, Fotoapparat usw. in jeder denkbaren Weise verwöhnten. Schon die Berichterstattung dieses ersten Tages machte mir klar: Da stimmte etwas nicht.
    Etwa neun Monate früher, im September 1965, hatte ich eine Psychoanalyse abgeschlossen. Eine solche Therapie geht niemals schnell, aber in meinem Fall hatte sie ungewöhnlich lange gedauert. Ich hatte sie 1946 im Alter von zweiundzwanzig Jahren in New York begonnen, mußte sie aber nach anderthalb Jahren aus finanziellen Gründen abbrechen. Erst neun Jahre später, in Berlin, konnte ich sie bei einem angesehenen, schon älteren Analytiker fortsetzen – einige Jahre, bis Dr.   Boehm starb. Um die Analyse abschließen zu können, mußte ich mir meinen dritten Analytiker suchen. In diesen langen «Lehrjahren auf der Couch» . (Tilmann Moser) habe ich nicht nur über mich, sondern über meine Mitmenschen, über alle Menschen einiges gelernt.
    Ich wußte nur zu gut, was es bedeutete, ein todunglückliches, emotional mißbrauchtes, mit elf Jahren sexuell verführtes und mißhandeltes Kind zu sein, und ich wußte auch, welche Narben, welche nie ganz verheilenden Wunden solche Erlebnisse im späteren Leben werden konnten. Meine eigenen Kindheitserlebnisse hatten mich, im Gegensatz zu Jürgen Bartsch, nicht einmal in die Nähe von Mord geführt, aber mir war allzu vertraut, was es hieß, das Kind einer unglücklichen Ehe zu sein – einer Ehe, die nie hätte zustande kommen sollen, zwischen einem primitiven, brutalen, tyrannischen, verachtungsvollen Vater und einer prüden, höchstwahrscheinlich frigiden, hysterisch religiösen Mutter. Ich sah in mir zwar keinen Vorgänger des
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