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Vom Wunsch, Indianer zu werden

Vom Wunsch, Indianer zu werden

Titel: Vom Wunsch, Indianer zu werden
Autoren: Peter Henisch
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gesagt jünger aus, als er sei. Aber manchmal, da komme er sich sehr alt vor. Zumindest habe er das, nebenbei bemerkt gar nicht unangenehme Gefühl, schon mehr als die Hälfte der Lebensanstrengung hinter sich zu haben.
    Jetzt machen Sie aber einen Punkt, sagte Herr Burton. Ihr Leben liegt doch noch zu wenigstens zwei Dritteln vor Ihnen! Sie sind, wie gesagt, zu beneiden, nicht nur um Ihre Jugend. Wenn ich bloß daran denke, wie
ich
damals in Ihrem Alter …
    Er meine, damals, im Alter des jungen Mannes, da sei er, wie erwähnt, natürlich auch … Aber im Jahre 1864 oder ’65, da war halt alles noch ganz anders. Klar, die Verhältnisse waren viel schwieriger damals. Doch in gewisser Hinsicht waren sie auch einfacher. Meine Leute waren erzgebirgische Weber, wenn Sie sich vorstellen können, was das heißt. Aber eines Tages, fragen Sie mich nicht, wie ich das geschafft habe, war ich drüben in St. Louis und habe dort, bei einer deutschstämmigen Familie, wie Sie sich denken können, eine Stelle als Hauslehrer angetreten. Das war aber erst der Anfang. Der Horizont war damals noch offener. Und man konnte, eine gewisse Courage vorausgesetzt, ganz einfach auf ihn zureiten.
    Als Landvermesser zum Beispiel. Für eine Railroad-Company. Die Schienen, die heutzutage die Prärien zerschneiden, waren ja längst noch nicht alle gelegt. Und weiter ging es, nach Westen, der Sonne entgegen. Ich meine der Sonne
nach
. Und/ aber die Indianer …
    Wenn man doch, unterbrach ihn an dieser Stelle der junge Mann und erhob sich, ein Indianer wäre,
    gleich bereit, und auf dem rennenden Pferde,
    schief in der Luft, immer wieder kurz erzitterte über
    dem zitternden Boden,
    bis man die Sporen ließ, denn es gab keine Sporen,
    bis man die Zügel wegwarf, denn es gab keine Zügel,
    und kaum das Land vor sich als glatt gemähte
    Heide sah,
    schon ohne Pferdehals und Pferdekopf.
    Dann blieb eine große Stille in der Kabine. Obwohl sie sehr weit von diesem Teil des Schiffs entfernt waren, hörte man das Stampfen der Maschinen. Der junge Mann stand da, seinen eigenen Worten nachlauschend. Groß wurden Frau Klaras Pupillen. Schwer atmete Herr Burton.
    Was war das? fragte er endlich.
    Ein kleines Stück Prosa, das ich voriges Jahr geschrieben habe.
    Das sagte der junge Mann sehr leise, ein bißchen traurig.
    Klingt eher wie ein Gedicht, bemerkte Frau Klara.
    Ja, sagte der junge Mann. Wahrscheinlich kann ich es deswegen so gut auswendig.
    Also doch, Sie schreiben! sagte Herr Burton.
    Nein, sagte der junge Mann aus Prag, plötzlich wieder trotzig, er schreibe
nicht
. Er
schreibe
nicht und
werde
auch kaum mehr schreiben. Seit er im sogenannten Berufsleben stehe, habe er keine gescheiten fünf Zeilen mehr zustande gebracht.
    Solang er ganztägig gearbeitet habe, sei er am Abend einfach zu stumpf dazu gewesen. Und mit der halbtägigen Arbeit habe er sich am Nachmittag zu leer dazu gefühlt. Vielleicht sei ja alles nur eine Frage der Gewohnheit und der Koordination. Aber wahrscheinlich sei das, was er geschrieben
habe
, und wäre das, was er womöglich noch schreiben würde, ohnehin zu nichts anderem gut als zum Unterzünden.
    Sagen Sie das
nicht, sagte Herr Burton, so etwas soll man nie sagen. Er schenkte sich nach. Wieder zitterte seine Hand. Wer weiß, sagte er, vielleicht wird ja noch etwas aus Ihnen. Aber sagen Sie, nur eine Frage am Rand: Wie kommen Sie ausgerechnet auf diesen Indianerwunsch?
    Die Frage stand im Raum, und der Raum war, wir erinnern uns, eine Luxuskabine. Schwimmender Ort der Handlung: D ER GROSSE K URFÜRST . Ein Schiff dieses Namens. Gestartet in Bremerhaven. Und es war noch immer der 6. September 1908, sagen wir gegen 18 Uhr, rund um das Schiff schwappte der Atlantik.
    Sie werden lachen, sagte der junge Mann, dieser Text ist von Karl May inspiriert. Zwar habe ich, als ich ihn geschrieben habe, gerade Kleist gelesen, vor ihm auf den Knien liegend. Aber da ist mir, gewissermaßen von hinten, Karl May nahegetreten. Das war dann gewissermaßen eine Regressionsphase.
    Was?
    Eine Regressionsphase. Haben Sie Freud gelesen?
    Frau Burton war früher gefaßt als ihr Gatte: Haben Sie
May
gelesen?
    Klar, sagte der junge Mann, natürlich, als Bub. Ich war sogar auf ganz besondere Weise für diese Lektüre anfällig.
    Anfällig?
    Ja. Weder zu Hause noch in der Schule habe er sich in seiner Eigentümlichkeit verstanden und respektiert gefühlt. Soweit
er
es erfahren habe, arbeite man sowohl in der Schule als auch zu Hause darauf hin,
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