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Vom Wunsch, Indianer zu werden

Vom Wunsch, Indianer zu werden

Titel: Vom Wunsch, Indianer zu werden
Autoren: Peter Henisch
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Karl, sagte sie,
mir
brauchst du das doch nicht zu erzählen!
    Fast zehn Jahre her, daß er so etwas zum letzten Mal versucht hatte.
    Etwas besorgniserregend, was dieser junge Mann in ihm auslöste.
    Der junge Mann, der die Herrschaften so nachhaltig beschäftigte, lag inzwischen, ebenfalls schlaflos, etwas tiefer unten, aber auf der Höhe eines Stockbetts. Seine zwei unmittelbaren Reisegenossen, die in den bodennäheren Etagen lagen, sägten wie die Holzfäller. Zwar war er extrem geräuschempfindlich, aber daran hätte er sich zur Not noch gewöhnen können. Ganz ohne Frage schlimmer war, daß man den beiden beim besten Willen nicht trauen konnte.
    Das hatte sich bei seiner Rückkehr aus der Kabine der Burtons erneut erwiesen. Gerade waren sie wieder dabei gewesen, den Inhalt seines Koffers zu untersuchen. Als sie ihn gesehen hatten, hatten sie den Deckel zwar zugeklappt, aber ohne besondere Eile. Was tun Sie da? hatte er gefragt. Wir vertreiben uns die Zeit, hatten sie geantwortet. Sei doch kein Spielverderber.
    Wie oft seit der Abfahrt aus Bremerhaven hatte er ihnen schon gesagt, sie sollten das bleiben lassen! Aber das ging dem einen beim einen Ohr hinein und dem anderen beim anderen Ohr hinaus. Sie standen, saßen und lagen immer sehr eng beieinander, steckten die Köpfe zusammen und lachten. Sie behaupteten, ein Franzose und ein Ire zu sein, aber der junge Mann glaubte das nicht, dazu sahen sie einander zu ähnlich. Weit eher waren sie Brüder, obwohl der eine dunkles und der andere rotes Haar hatte. Das Haar des Dunklen sah übrigens aus wie eine Perücke. Zudem hatte der eine einen Schnurrbart und der andere hatte keinen. Aber je öfter der junge Mann den Schnurrbart ansah, desto eher hätte er schwören mögen, daß auch der nicht echt war.
    Die beiden scheuten wirklich vor nichts zurück. Nicht nur, daß sie in seinem Koffer (den Schlüssel dazu hatte er leider verloren) alles durcheinanderwarfen, bissen sie bei dieser Gelegenheit jedes Mal ein Stück von der Veroneser Wurst ab, die ihm seine Mutter eingepackt hatte. Aber Mama, hatte er gesagt, wann wirst du endlich akzeptieren, daß ich erwachsen bin und, wenn schon nicht koscher, so wenigstens vegetarisch essen will. Ach was, hatte sie geantwortet, du wirst immer mein Kind bleiben, und auf deiner ersten Dienstreise wirst du sicher Hunger bekommen.
    So eine Mutter hatte er! Wenn er an sie dachte, kamen dem jungen Mann im oberen Stockbett die Tränen. Das war sonst kaum seine Art, aber der Cognac, den er, wäre er seinen Vorsätzen treu geblieben,
nicht
getrunken hätte, hatte anscheinend etwas in ihm aufgetaut. Ein Stück des gefrorenen Meers, das nun lauwarm tropfte. Liebe Mama, würde er schreiben, sei mir nicht gram, aber ich konnte nicht anders.
    Ihr zuliebe wollte er nun doch ein Stück von der Salami kosten. Selbstverständlich nicht, ohne sie vorher mit dem Taschenmesser von der Bißspur der beiden Schnarcher zu reinigen. Auch einen Brief an seinen besten Freund begann er im Kopf. Lieber Max, Du ahnst nicht, wo und wie ich mich befinde.
    Wie sollte er bloß erklären, was er sich selbst noch nicht ganz erklären konnte? Daß diese Briefe weder aus Tetschen noch aus Černošic noch aus Spitzberg im Böhmerwald kommen würden? Das Ganze ist mir so halb und halb passiert. Aber wenn das kein Traum ist, so befinde ich mich jetzt auf einem Schiff in der Mitte des Atlantischen Ozeans und habe immerhin Hoffnung, die Freiheitsstatue demnächst mit eigenen Augen zu sehen.
    Er hatte es ja beinahe schon einmal geschafft. Damals, als er sich endgültig entschlossen zu haben schien, am Abend zu Hause zu bleiben. Als er den Hausrock angezogen hatte und nach dem Nachtmahl noch beim beleuchteten Tisch saß. Und am familiären Kartenspiel teilnahm, obwohl er fürs Kartenspiel nie etwas übrig gehabt hatte.
    Damals also. Als draußen unfreundliches Wetter war. Was das Zuhausebleiben fast selbstverständlich machte. Und schließlich hatte er jetzt schon so lange bei Tisch stillgehalten. Zumindest
über
dem Tisch –
unter
dem Tisch, da zappelten die Beine.
    Schon als Kind hatte er diese Beine kaum ruhig halten können. Zu Haus, in der Schule, in der Synagoge, auf Verwandtenbesuch, im Theater. Zappelphilipp, hatte ihn seine Mutter scherzhaft genannt. Aber sein Vater hatte wenig Sinn für solche Scherze: Was ist, mußt du aufs Klo?
    An jenem Abend also beim Kartenspiel. Nach dessen Beendigung man für gewöhnlich zu Bett ging. Der König, die Dame, der Vater, die
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