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Vogelstimmen - Bernemann, D: Vogelstimmen

Titel: Vogelstimmen - Bernemann, D: Vogelstimmen
Autoren: Dirk Bernemann
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Menschengestalt, so viel Bedarf an Leben sie hatte, so wenig Möglichkeiten hatte sie, diesen zu entäußern. Die Schreie wurden leiser. «Wota, wota, äh ...»
    Zwei Meter weiter stand ich dann vor einer Tür, deren Klinke ich mit schweißnasser Hand umklammerte. Ich hatte immer Angst, diesen Raum zu betreten, obwohl ich ihn jeden Sonntag betrete. Ich gab der Klinke ein wenig Druck, und die schwere Zimmertür öffnete sich nach innen. In diesem Zimmer lebt meine Mutter.
    Als ich das Zimmer betrete und die Tür bedächtig hinter mir schließe, tritt ein Geruch in meine olfaktorische Wahrnehmung ein, der sich aus der Melange konzentrierten Eigenurins an Baumwolle und Desinfektionsmittel bildet. Ich rieche Atmosphäre und auch ein wenig das, was von der Mütterlichkeit dieser Frau übriggeblieben ist. Diese Mischung aus chemischer Bakterienvertilgung und der Inkontinenz einer undurstigen Frau, das ist seit fast einem Jahr meine Mutter.
    Meine Mutter ist demenzkrank. Dem Gehirn meiner Mutter passiert in etwa das, was einer handelsüblichen Aspirintablette widerfährt, die in ein Wasserglas geworfen wird. Das hat mir ihr Arzt erklärt. Auflösung in Wohlgefallen. Mit dem Gehirn verschwinden auch so langsam alle Funktionen dieses Organs. Zu allererst verabschiedete sich damals ihr Kurzzeitgedächtnis; Schlüssel wurden verlegt, Namen verwechselt, der Herd angelassen und Termine vergessen. Später dann ließ das Denkvermögen als solches nach; meine Mutter vergaß tausendmal zubereitete Gerichte, erinnerte sich nicht mehr an langjährige Freunde, verbrachte tagelang im Kopfdelirium, ohne zu wissen, was eigentlich los war. Dann kam die Diagnose, die sogenannte Alzheimer-Krankheit wurde bestätigt. Der Prozess der Gehirnzersetzung zog dann weitere Kreise, mein tapferer Vater versuchte all das auszugleichen, was ihm schwerfiel, denn er war unfähig, einen Herd oder eine Mikrowelle zu bedienen. Meine Mutter war ohnehin schon immer eine sture Persönlichkeit gewesen, die Krankheit verstärkte dieses Bild noch. Sie wollte in ihrer Küche nicht klein beigeben, die väterlichen Versuche, ihr zu helfen, empfand sie als Schmach und wurden nicht akzeptiert. Mein alter Vater war kein konfliktbereiter Mann, und so passierten einige Unfälle im Haushalt, ein brennendes Hemd unter einem aktivierten Bügeleisen war noch das harmloseste.
    Ihr Geist löste sich weiter auf, der Prozess des sich Versprudelns ihres Gehirns war unaufhaltsam. Es gab dann dieses Irgendwann, diesen Erkenntnispunkt, dass es nicht mehr ohne fremde Hilfe ging, und darin wohnte eine Tragik. Wenn ein Sohn erkennt, dass die Frau, die ihn geboren hat, nicht mehr imstande ist, sich selbst zu versorgen, bricht auch von ihm was ab. Essentielle Teile meiner Liebe musste ich drangeben, um zu akzeptieren, was da im Kopf meiner Mutter abging. Mein Herz weichte auf.
    Irgendwann als ich bei meinen Eltern zu Besuch war und wir zu Tisch saßen, wusste meine Mutter nicht mehr, was man mit einer Gabel macht. Mein Vater hatte Tränen in den Augen, als meine Mutter den Metallgegenstand vom Tisch aufhob und ihn von allen Seiten begutachtete, ihn aber keiner Funktion zuordnen konnte. Kindlich fragende Mutteraugen sahen mich und meinen Vater an, und auch ich spürte, wie von innen Tränen anklopften. Ich hatte ein Stück Rinderbraten im Hals, das passte ganz gut dahin, in meinen Hals, denn zum Runterschlucken des Fleisches war ich einfach zu traurig. Mich durchweichte eine Schwäche wie ein herbstlich plätschernder Regenschauer. Ich spürte eine unsagbar zerrende Schwermut. Die Unfähigkeit der Mutter zu essen. Ich fühlte mich wie ein durstiger Seemann auf dem Meer: Wasser, Wasser überall, aber nirgends ein Schluck zu trinken.
    Sie steht mit dem Rücken zu mir und schaut aus dem Fenster in die Weite. Meine Mutter. Neunundsechzig Jahre alt und von magerer Gestalt. Sie trägt einen rosafarbenen Jogginganzug, der die Dünnheit ihres Körpers bestätigt, dazu braune Pantoffeln. Ihr Blick scheint sich in vor dem Fenster gesehenen Dingen zu verlieren. Ich versuche ein zärtlich zaghaftes «Hallo», doch ich ernte keine Reaktion. Sie starrt weiter in die ihr vor dem Fenster offenbarte Weite. In der reflektierenden Fensterscheibe sehe ich ihre sehnsüchtigen, nassen, geröteten Augen, die auf irgendetwas zu warten scheinen, was es nicht gibt. Auf etwas zu warten, was nicht existent ist, kann einem den Tag retten.
    Von draußen dringen gedämpfte Kinderschreie und Autobetriebsgeräusche in den
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