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Vogelstimmen - Bernemann, D: Vogelstimmen

Titel: Vogelstimmen - Bernemann, D: Vogelstimmen
Autoren: Dirk Bernemann
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aber keiner sich für seine Kontrolle verantwortlich fühlt. Die Jungs wirkten so alleingelassen mit ihrem Gedankendreck, und der schmächtige Araber sagte plötzlich mit seiner jungenhaft dünnen Stimme was Kluges: «Jungens, ich klatsche keinen Beifall, wenn der Verstand die Schlacht gegen das Gefühl verliert ...» Hatte er das gerade wirklich gesagt? Manchmal unterschätzte ich die kleinen Menschen hier. Der Dünne, diesen wunderbaren Satz ignorierend, sagte: «Sie is’n Opfer, Digga, mach locka, eh, atme durche Hose, asch ma ab und verhalt dich ruhig.» Dabei gestikulierte er beschwichtigend, und der Pommes geblähte Junge trat daraufhin ziemlich heftig gegen einen Mülleimer, der neben dem Wartehäuschen aufgestellt war. «Ey, fuck, ich will, dass alle leiden!» Ein Satz wie aus einem amerikanischen Actionfilm, wenn der Held, dessen Frau und/ oder Kind von Bösewichten ermordet worden war, der Welt und ganz speziell den Tätern Rache schwor. Ich ging einen Schritt zur Seite und einen nach hinten und presste mich wurstgleich in einen rechten Winkel der Bushaltestelle. Das sind sie also, die unberechenbaren Zerstörerkids des neuen Jahrtausends. Sie treten Mülleimer aus Liebeskummer um und manchmal sagen sie richtig schlaue Dinge.
    Ich sah den Bus kommen. Linie 7. Die zischenden Türen gewährten mir Einlass. Die drei Sportanzugträger ließen sich einige Reihen vor mir in die schmuddeligen Sitze sinken und kommunizierten sofort ohne Unterbrechung weiter. Ich fragte mich, ob diese Kinder wirklich so unberechenbar waren, wie sie medial immer dargestellt wurden, und ob sie noch die Zärtlichkeit zwischen Gewaltangebot und Vollrausch kannten.
    Gutes Wetter hatte sich mittlerweile gegen nicht entscheidungsfähiges Tocotronic-Wetter durchgesetzt und frühlingsentsprechende zarte Sonnenstrahlen brachen sich in der Fensterscheibe des Busses, und ich saß sehr weit hinten und starrte auf drei bemützte Schülerköpfe mit der Fragestellung im Anschlag, was in diesen wohl vorging. Der kleine Araber, der diesen einen schlauen Satz gesagt hatte, war wieder zu einem stillen Häufchen Opferbereitschaft geworden, während sich seine Markendesignsportartikel geschmückten Dudes lautstark über das Für und Wider einer Offensive gegen die heartbreaking Bitch unterhielten. Der Aufgedunsene erging sich mittlerweile in Gewaltfantasien allerprickelndster Güteklasse. «... Beine brechen und dann in’n See werfen ...», war nur zwischendurch mal zu hören, und der Ausgemergelte wollte immer noch beschwichtigend wirken, hatte aber verbal und verständnismäßig kaum eine Chance gegen den gewaltbereiten Dicken. Ich kramte meinen Mp3-Player hervor und stellte auf zufällige Wiedergabe, weil das genau dem Gefühl entsprach, das ich gegenüber diesen Menschen hatte. Der Zufall hatte uns hier hingemacht. Und da war die Wut und da die Beschwichtigung, vielleicht ein Splitter Intelligenz auch und Unmut über so vieles wie auch Unwissenheit über so manches.
    Ich sollte eigentlich mitten im Leben stehen, aber ich stand eher daneben, und wenn es hier eine Pfütze Leben gab, in der ich zufällig stand, bekam ich davon allerhöchstens unangenehm nasse Füße. Ich saß stattdessen, also statt mich in der Mitte irgendeines großen Lebens aufzuhalten, in einem Stadtbus und sah aus dem Fenster ins hässliche Antlitz der anonymen Großstadt, die dastand mit ihren vielfältigen Optionen und mich auslachte, dass ich an den meisten nicht teilhaben konnte. Der Bus fuhr, ich machte die Musik lauter und wollte endlich da sein, wo ich hinwollte. Wo das aber war, wusste ich nicht. Ich wusste nur, dass alle Tage gleich lang, aber verschieden breit waren.
    Nach etwas mehr als 20 Minuten Busfahrt hatte ich mein Ziel erreicht, draußen eine frische Luft, die man gern ungefiltert in seinen Körper ließ, denn sie schmeckte nach Leben, nach purem Leben, und wenn man nur ewig imstande wäre, diese Luft zu atmen, nichts könnte einem je geschehen. Ich wusste ja, auf was ich zulief, auf etwas, was mit Atemlosigkeit trotz ruhigem Puls zu tun hatte.
    ***
    Und ich dachte: ein Frühlingstag. Ja, ja, ja, ein Frühlingstag. Der Mai hat seine Mitte erreicht. Doch was bringt die Mitte eines Mais, wenn es so was wie Vergänglichkeit gibt, wenn man von der Mitte eines Mais schon das Ende eines Novembers erkennen kann?
    Immer wenn ich dieses Gebäude betrete, umfängt mich die Angst. Es ist nicht so eine plötzliche Angst, also so eine, die kommt, weil irgendwas akut in
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