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Vogelstimmen - Bernemann, D: Vogelstimmen

Titel: Vogelstimmen - Bernemann, D: Vogelstimmen
Autoren: Dirk Bernemann
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Raum. Irgendwelche Vögel zwitschern, in meinen Ohren eher unbehagliche Zwischentöne. Ich erinnere mich an kindliche Waldspaziergänge mit meiner Mutter, und wenn irgendwelche Vögeltöne zu hören waren, hatte sie immer innegehalten, um mir daraufhin den Verursachervogel dieser Geräusche zu nennen: Rotkehlchen, Amsel, Kohlmeise, weiß der Geier, was da noch so rumgeflogen war. Meine Mutter hatte ihre Kindheit in den 50er- und 60er-Jahren verlebt, da hatte man für derartige Hobbys wie Vogelstimmenzuordnen noch Zeit, und außerdem hatte es auch noch entschieden mehr Vögel gegeben, die die Sache vielleicht interessanter gemacht hatten. Für mich war das nie was, ich wollte mich nicht auf dieses fiese Gefiepe konzentrieren, um dann am Ende als unliebsamer Nerd irgendwo soziophob im Wald herumzukrauchen. Selbst als Kind war mir das schon klar, dass mich diese gefiederten Kleinlebewesen, die den Luftraum bevölkern, nicht die Bohne interessieren. Das wusste ich schon damals, aber meine Mutter blieb davon unbeeindruckt und erklärte mir weiter die subtile Welt der Kleinflugtiere.
    «Hallo, Mama.» Ich werde nun etwas lauter, und sie zuckt und dreht sich langsam um. «Ach, der Zeitungsjunge», sagt sie und läuft zögernd schleppend zu ihrem Nachtschränkchen, «warte mal, ich habe was für dich.» Sie zieht die Lade auf und holt eine Tafel Nussschokolade raus. «Da», sagt sie und reicht sie mir, «nimm.» Ich nehme das Teil, immer noch eine gewisse Unsicherheit ausstrahlend, obwohl sie mich schon seit Monaten nicht mehr als der erkannt hat, der ich bin, aber es fühlt sich jedes Mal so entsetzlich schmerzvoll an. Jetzt lächelt sie, als würde sie mich doch als ihren Sohn erkennen, so simpel und voller Liebe, aber so war meine Mutter immer. Jeder, der ihr Respekt und Liebe entgegenbrachte, bekam dies doppelt und dreifach zurück.
    «Setzen Sie sich doch.» Meine Mutter rückt mir einen Stuhl zurecht, auf den ich mich langsam niederlasse. Sie selbst setzt sich auf ihr ungemachtes Bett. Es riecht nach Urin. Mir ist schlecht, ein Druckgefühl in der Magengegend kommt hinzu, und auch die Luftröhre wird enger, einfach nur wegen der Augenblicke mit meiner Mutter. Leise fühle ich Kotze aufsteigen, die sich plötzlich in meinem Hals aufhält und da Bitterkeit provoziert. Es gelingt mir aber, den Verdauungsmorast runterzuschlucken, und ich bekomme daraufhin Bauchschmerzen.
    Dann beginnt meine Mutter zu reden. Sie erzählt mit nahezu tonloser Stimme, ich erkenne kaum noch die Klangfarbe ihrer Stimme, die mich einst in den Schlaf gesungen oder geweckt hat. Sie redet zusammenhanglose Dinge über Ärzte, andere Bewohner von St. Anna , manchmal über ihre Familie, und dann flackert mein Bewusstsein auf und ich lächle in meine eigentlich unbestimmte Trauer hinein, weil ich denke, vielleicht erkennt sie mich, wenn sie von mir redet. Da kommt dann ein wenig Hoffnung in mich, dass gleich so eine Art Schleier vom Deliriumsbewusstsein meiner Mutter fällt, sie einfach aufsteht, mich erkennt und mir irgendetwas Mütterliches gibt. Irgendeine Bewegung, ein Lächeln oder sonst irgendwas Familiäres. Deswegen bin ich hier, wegen der Hoffnung auf Minimalmomente. Aber wir stehen vor einem Abgrund, meine Mutter und ich, und ich weiß, dass sie vor mir springen muss. Sie hingegen weiß nicht mal mehr, was springen ist. «Also wissen Sie, Familie ist total überbewertet, mittlerweile verstehe ich das. Ich habe einen Sohn, und seitdem ich hier im Krankenhaus bin, also seit einer Woche etwa, seitdem hat er sich nicht blicken lassen, ganz allein lässt er mich hier verfaulen, seine arme, alte Mutter.» Sie beginnt zu weinen, und ich habe wieder ein Stück Irgendwas im Hals, was nicht runterzuschlucken ist, weil es keine Konsistenz hat, sondern nur die Atmung verhindert. Lediglich das. Meine Mutter heult wie ein Kind, dem man ein nicht nachvollziehbares Verbot ausgesprochen hat.
    Nach einer Minute beruhigt sie sich, weint langsamer, die Intensität der gefühlten Trauer lässt sichtbar nach, nicht aber die der Gesamtsituation. Meine Mutter erhebt sich wieder vom Bett und geht, fast theatralisch, zum Fenster, um wieder hinauszublicken. Wäre dies hier eine Theateraufführung, diese Szene wäre wohl von Kritikern als unpassend pathetisch bemängelt worden, aber das hier passiert wirklich, und es fühlt sich an, wie es aussieht, anonym und grau. Wie immer bei diesen Besuchen meißelt sich der Begriff «Vergänglichkeit» tief in mein steinernes
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