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Nephilim

Nephilim

Titel: Nephilim
Autoren: Gesa Schwartz
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1
    Rom ertrank im Regen. Das Wasser sammelte sich in den Straßen, die Konturen der Stadt verschwanden hinter dunstigen Schleiern und verwandelten sich in undeutliche Schemen. Nur vereinzelt brach der Mond durch die Wolkendecke, die sich in dieser Nacht wie ein schweres schwarzes Tuch über die Dächer gelegt hatte, und schickte seinen gleichgültigen Schein über Lachen aus rotem und grünem Neonlicht.
    Das Unwetter hatte die Menschen auch im Viertel San Lorenzo von den Straßen vertrieben, und so hörte Enzo nichts als das wütende Trommeln der Tropfen auf dem Asphalt und seine eigenen Schritte, strauchelnd und tappend zwischen all den Pfützen. Er hatte gelernt, den Regen zu hassen. Seine Finger schlossen sich starr vor Kälte um seinen Geigenkasten, und sein nasser Mantel schlug gegen seine Knie, dass es ihm das Laufen schwer machte. Vereinzelt glitt das goldene Licht aus den Wohnungen der Häuser über seine Wangen, und wie stets bei dieser Berührung überkam ihn auch nun der Impuls, stehen zu bleiben und zu den erleuchteten Fenstern hinaufzuschauen, schweigend und mit dieser atemlosen Sehnsucht des Ausgestoßenen nach dem Gewöhnlichen. Dieses Licht hatte eine Stimme, es hatte einen Geruch – und es hatte auch eine Faust, die es Enzo mit dem Zorn einer verschmähten Geliebten vor die Brust schlug und ihm eines ganz deutlich zeigte: Niemals würde er inmitten dieses Glanzes stehen, der warm und golden zu dem einsamen Wanderer auf der Straße herausbrach. Enzo fühlte diese Gewissheit in sich brennen wie ein aufflackerndes Kohlestück, und er schüttelte den Kopf über den Zorn des Lichts. Es lag nicht in seiner Entscheidung, in diesem Glanz zu leben. In diesem Punkt hatte er niemals die Wahl gehabt.
    Er zog sich die Fliegermütze tiefer ins Gesicht und blinzelte angestrengt gegen den Regen. Am anderen Ende der Straße erkannte er die Leuchtreklame des Restaurants. Ein Lächeln flog über sein Gesicht. Nun war es nicht mehr weit. Er hob den Geigenkasten vor seine Brust und rannte mit ihm quer durch die Pfützen bis zur Schwarzen Gasse. Zu beiden Seiten hockten die Häuser verlassen und missmutig wie schlechtgelaunte Kröten nebeneinander, spärlich beleuchtet von flackernden Straßenlaternen. Am Ende lag ein mit Graffitis übersäter, längst geschlossener Nachtclub. Noch immer hing ein Teil des Namens als riesiges Schild über dem Eingang. Die andere Hälfte stand schräg wie eine Spielkarte gegen die Häuserecke gelehnt. Enzo lief darauf zu, zog in einer schnellen Bewegung die Plane zurück, die halb zerrissen vom Schild herabhing, und schaute auf ein sorgfältig ausgelegtes Nest aus Zeitungen, Decken und alter Kleidung.
    »Casa, dolce casa«, murmelte er, bettete den Geigenkasten auf eine Jacke und setzte sich rücklings auf einen Stapel Zeitungen. Mit nassen Fingern streifte er sich die Schuhe von den Füßen, stellte sie sorgsam schräg gegen das Schild, hängte die tropfende Mütze an einen Nagel an der Hauswand und zog sich ins Innere seiner Behausung zurück.
    »Du wirst wohl in hundert Jahren noch nicht wieder trocken sein, wie ich das sehe«, sagte Enzo zu seinem Mantel, als er ihn auf ein paar Zeitungen ausbreitete. »Aber mach dir nichts draus. Fische sind ihr ganzes Leben lang nass, und stört es sie etwa? Na also!«
    Er nickte dem Mantel zu wie nach einem langen und fruchtbaren Gespräch und beugte sich fürsorglich über seinen Geigenkasten.
    »Keine Sorge«, murmelte er, während er den Deckel öffnete und der Violine einen Blick zuwarf. »Du bist ganz trocken geblieben, kein Grund zur Aufregung.« Vorsichtig stellte er sie zwischen einen Stapel zusammengefalteter Kartons und einen Berg Mützen und breitete eine Zeitung als Dach darüber. Dann setzte er sich ihr im Schneidersitz gegenüber, die nackten Füße in den Kniekehlen vergraben, und nickte gedankenverloren vor sich hin.
    »Ja, früher, da hast du recht, da wäre ich schneller gelaufen bei diesem Mistwetter«, sagte er. »Aber man wird nicht jünger, nicht wahr? Wie lange ist das jetzt her, seit wir uns in dieser Stadt niederließen? Fünfhundertdreiundsechzig, sagst du? Nun, das dürfte in etwa zutreffen, meine Liebe. Ich schätze, es waren fünfhundertachtundsechzig Jahre und siebeneinhalb Monate, um genau zu sein.« Er nickte vor sich hin. »Fünfhundertachtundsechzig Jahre … Wer hätte gedacht, dass alles einmal so endet?«
    Ein Geräusch ließ ihn zusammenfahren, etwas wie das Rasseln schuppiger Leiber unter Mauerwerk. Er warf der
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