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Nephilim

Nephilim

Titel: Nephilim
Autoren: Gesa Schwartz
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halb zerfetzte Kleidung hing wie Lumpen von seinem Körper herab. Er war barfuß, und obwohl er sich nicht rührte, wusste Nando ohne jeden Zweifel, dass der Fremde ihn vor der Stimme retten konnte, die in diesem Moment erneut hinter ihm aufwallte und ihn zu sich rief. Doch Nando zögerte, näher zu treten und die Hand nach einem der Flügel auszustrecken. Er verstand, dass der Fremde auf ihn wartete, und aus Gründen, die er selbst nicht vollends durchdrang, erschreckte ihn diese Erkenntnis mehr als die grausame Stimme hinter ihm. Und jedes Mal war sie es, die den Traum zerriss.
    Ausatmend schüttelte Nando die Bilder ab. Der Traum wartete auf ihn. Mit boshafter Geduld hockte er an den Rändern seines Bewusstseins und lauerte auf den Augenblick, ihn mit sich in die Dunkelheit zu ziehen. Doch Nando hatte schon immer ausgesprochen realistische Träume gehabt und früh gelernt, ihnen nicht zu viel Bedeutung beizumessen. Entschlossen, nicht vor einem leblosen Messingding zu kapitulieren, beugte er sich wieder über die Kasse und hatte gerade den Schraubenzieher angesetzt, als ein erneutes Klopfen gegen die Glastür ihn aufsehen ließ – heftiger dieses Mal, denn es kam nicht vom Regen. Dort stand eine Gestalt, groß und ganz in Schwarz gekleidet. Der Regen tropfte von einem breitkrempigen Hut, der das Gesicht vollständig verbarg.
    Nando seufzte. Es war kein Geheimnis, dass er den Obdachlosen des Viertels nach Feierabend etwas Warmes zu essen gab, sehr zum Missfallen von Signor Bovino. Aber gerade in diesem Moment hatte er anderes zu tun, als Suppe aufzuwärmen, zumal er den Fremden noch nie zuvor gesehen hatte. Er zog die Brauen zusammen. Es war weder der alte Mo, der jahrelang in Spanien gelebt hatte, ehe es ihn hierher verschlagen hatte, noch Carla, deren Körper mit Abszessen übersät und von Drogen gezeichnet war, oder Enzo mit dem Geigenkasten, dieser liebenswerte alte Kerl, der mit seiner Violine sprach, als würde sie ihn verstehen, und den Nando nicht nur seit Jahren kannte, sondern mit dem ihn auch eine tiefe Freundschaft verband. Auch war es keiner von den Übrigen, die regelmäßig kamen.
    Da hob der Fremde die Hand und klopfte noch einmal. Nando fuhr sich durch die Haare. Verfluchtes gutes Herz. Er ließ von der Kasse ab, drehte den Schlüssel herum und öffnete die Tür.
    Das Erste, das Nando wahrnahm, war der seltsame Geruch, der von dem Fremden ausging. Er war samten, schwer und kühl, ein Duft wie Schnee und Frühlingsahnen zugleich, und strich wie ein Atemzug über seine Wangen.
    »Du kannst dich da hinsetzen, wenn du magst, ich bring dir gleich was zu essen.« Nando deutete flüchtig auf den Tisch in der Ecke. Dann stellte er den Herd an, auf dem noch ein Topf mit Suppe stand, schüttete ein paar Brotkanten in einen Korb und widmete sich wieder der Kasse. Doch der Schraubenzieher half nicht mehr. Er verbeulte nur das Geldfach, das sich kein Stück weiter öffnete. Ärgerlich knallte Nando sein Werkzeug auf den Tresen und stellte fest, dass der Fremde noch immer an der Tür stand, regungslos, als wäre er zu Eis erstarrt.
    »Du kannst dich ruhig setzen«, sagte Nando und deutete noch einmal auf den Tisch. »Die Suppe ist gleich warm, dann … «
    Da hob sein Gegenüber den Kopf und sah ihn an. Dunkles, von weißen Strähnen durchsetztes Haar quoll unter dem Hut hervor, fiel weit über die Schultern und umrahmte ein regloses Gesicht mit Adlernase und bronzefarbener Haut. Die Augen des Fremden waren durchdringend und teerschwarz wie das Gefieder eines Raben. Nando hätte unmöglich sagen können, wie alt sein Gegenüber war, denn obgleich sein Haar das eines betagten Mannes sein konnte, wirkte sein Gesicht nicht älter als das eines Menschen Mitte vierzig, und seine Augen … Der Fremde neigte leicht den Kopf, als hätte er Nandos Gedanken gehört, und nickte kaum merklich. Er setzte sich an den Tisch in der Ecke, ohne sich abzuwenden.
    Nando riss seinen Blick los und wartete ungeduldig darauf, dass die Suppe kochen würde. Gerade heute hatte er keine Zeit für merkwürdige Fremde, es war schon schlimm genug, dass diese verfluchte Kasse klemmte und er Signor Bovino erklären musste, dass er daran keine Schuld trug. Er seufzte innerlich, als er daran dachte.
    »Also«, sagte er, um nicht weiter darüber nachzudenken und die unangenehme Stille zu durchbrechen. »Ich habe dich hier noch nie gesehen. Wie ist dein Name?«
    Er hatte gelernt, dass Namen auf der Straße eine wichtige Bedeutung hatten. Die
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