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Nephilim

Nephilim

Titel: Nephilim
Autoren: Gesa Schwartz
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Blick und sah ihn an, als wollte er ihn für diesen Gedanken tadeln.
    »Niemals wird jemand den Ort jenseits des Lichts betreten, der das nicht will«, sagte er leise. »Bantoryn ist dein Ziel, auch wenn du es noch nicht weißt. Doch du wirst deinen Weg erkennen, und dann wirst du ihn gehen. Immer schon schien es dir, als würde mit der Welt etwas nicht stimmen, als wäre ein Fehler darin, den du dir zwar nicht erklären kannst, den du aber dennoch fühlst. Du spürst, dass dich etwas von den gewöhnlichen Menschen unterscheidet. Und du trägst eine Sehnsucht nach etwas anderem in dir, nach etwas jenseits all dessen, was dein Auge sieht – etwas, für das du zeit deines Lebens keine Worte gefunden hast. Wie oft hattest du schon das Gefühl, ein fremdes Leben zu leben, in etwas hineingeraten zu sein, das nicht das deine ist? Wie oft hast du darüber nachgedacht, dass diese Welt mehr sein könnte, viel mehr, als sie zu sein scheint? Oft, sehr oft hast du das getan und immer geahnt, dass die Wahrheit hinter diesen Gedanken liegt, die du nicht durchdringen kannst. Ist es nicht so? Und alles ist noch schlimmer geworden seit dem Tag, da die Träume begannen.«
    Auf einmal war Nandos Mund staubtrocken. Er hörte den Regen, der wie Hohngelächter gegen die Scheibe schlug. »Was weißt du über meine Träume?«
    Antonio trat einen Schritt auf ihn zu, und Nando erschrak über die Bewegung so sehr, dass er zurückwich. »Folge mir«, erwiderte Antonio kaum hörbar. »Folge mir nach Bantoryn, und du wirst es erfahren.«
    Nando wollte etwas erwidern, aber es war, als läge eine Tonnenlast auf seinem Brustkorb, die ihm das Sprechen unmöglich machte.
    Atemlos schüttelte er den Kopf.
    Antonio nickte, als hätte er mit dieser Reaktion gerechnet. »Bald schon wirst du keine andere Wahl mehr haben«, erwiderte er leise. »Deine Welt wird zerbrechen, und sie wird dich mit sich reißen, wenn du nicht vorbereitet bist. Du stehst kurz vor dem Erwachen. Und eines wirst du erkennen: Es gibt keine Sicherheit jenseits des Lichts, das du verloren hast.«
    Antonio schwieg einen Moment, dann öffnete er den Mund wie jemand, der noch etwas sagen will und nicht kann. Doch schließlich schüttelte er den Kopf und legte die Hand auf die Klinke. Er warf einen Blick auf die Kasse, es klingelte leise in ihr, und dann sprang das Geldfach auf. Nando fuhr zusammen, so sehr erschrak er von dem plötzlichen Geräusch. Er starrte Antonio an, der unbewegt an der Tür stand, als wäre die Kasse von ganz allein aufgesprungen, und hörte auf einmal seinen Namen: Nando.
    Doch dieses Mal hatte Antonio nicht den Mund zum Sprechen bewegt. Seine Stimme war in Nandos Kopf geflogen wie ein Gedanke. Ein Frösteln lief Nando über den Rücken. Nie zuvor, das wusste er, hatte er seinen Namen auf diese Weise ausgesprochen gehört, so sanft und so – traurig. Antonio neigte leicht den Kopf, und Nando fühlte sich von dem dunklen Gold seiner Augen umfangen wie von einem Tuch aus Nacht.
    Ein lautes Knacken ließ sie beide zusammenfahren. Nando verlor Antonios Blick und fand sich mit einem Schlag von der Last auf seiner Brust befreit. Er hustete und sah, dass das plötzliche Geräusch von einem Insekt herrührte, einem Schmetterling, der unablässig gegen die gläserne Tür flog. Er schimmerte eigentümlich, doch noch ehe Nando ihn genauer hätte betrachten können, stieß Antonio die Luft aus wie nach einem heftigen Schlag. Er fuhr herum, seine Augen standen in goldenem Feuer, als er Nando ansah. Dann riss er die Tür auf und verschwand so schnell in der Nacht, dass es schien, als wäre er nichts als ein Geist gewesen. Nur seine Worte blieben zurück.
    Erst sind es nur Träume , hörte Nando seine Stimme in seinem Kopf. Aber eines Tages, bald schon, werden sie wahr.

3
    Avartos Palium Hor stand auf dem Dach eines heruntergekommenen Mietshauses, fühlte, wie der Regen seinen Nacken hinabrann, und verfluchte Gott. Nicht, dass er an die Existenz einer solchen Entität geglaubt hätte – seit den Ersten Tagen war es auch in seinem Volk alles andere als selbstverständlich, sich bei klarem Verstand zu dieser Möglichkeit zu bekennen. Aber das Fluchen half ihm, seine reglose Fassade aufrechtzuerhalten, die vermaledeiten Sturzbäche an seinem Körper hinabgleiten zu lassen und den Blick unverwandt auf jenes Restaurant gerichtet zu halten, in dem der Junge mit den blauen Augen auf die geöffnete Tür starrte und sich offensichtlich nicht überwinden konnte, sie wieder zu
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