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Nephilim

Nephilim

Titel: Nephilim
Autoren: Gesa Schwartz
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    Seit fünf Stunden stand Avartos regungslos. Seine rechte Hand ruhte auf dem Knauf seines Schwertes, und er hörte auf das gleichmäßige Prasseln der Regentropfen, die gegen seinen matten, wie eine Weste gearbeiteten Brustharnisch schlugen. Darüber trug er einen schwarzen Gehrock mit einem kapuzenbewehrten Umhang, der ihn mit den Schatten der Nacht verschmolz und vor unliebsamen Blicken verbarg. Seine Hose war schwarz wie seine ledernen Stiefel, die bis hinauf zur Wade reichten und deren mit silbernen Beschlägen versehene Spitzen sich hervorragend als Waffe eigneten. Auf dem Rücken trug er seinen Bogen und den Köcher mit den schwarzen Pfeilen. Der Regen hatte sein blondes, fast weißes Haar, das in trockenem Zustand in leichten Wellen bis auf seine Schultern hinabfiel, trotz der Kapuze größtenteils durchnässt. Auf den ersten Blick wirkte sein ebenmäßiges Gesicht sanft, beinahe zart, doch in dem goldenen Licht, das in seinen Augen flammte, lag ein harter, kalter Ausdruck, und selten sah man ihn ohne das leicht spöttische Lächeln auf seinen Lippen.
    Avartos war ein Geschöpf des Lichts. Er hatte die Schlange von Bagdad mit bloßen Händen zerrissen und die Ghule der Wälder im Norden gelehrt, was Furcht bedeutet. Er war in die Ruinen unter Moskau hinabgestiegen, um den Lindwurm zu jagen, und er hatte den Kopf des letzten Basilisken der lichten Welt mit einem einzigen Hieb von dessen Leib getrennt. Für sein Volk hatte er das getan, und das alles nur aus einem einzigen Grund: weil er ein Krieger und ein Jäger war. Und er hatte ein Ziel.
    Seine Hand schloss sich fester um sein Schwert. Seit Jahrhunderten war er jenem Geschöpf auf der Spur, das sich hinter dem Namen Antonio Montanaro verbarg, und ausgerechnet nun, da diese Kreatur allein und unaufmerksam nur wenige Schritte von ihm entfernt durch den Regen gehastet war, hatte er sie nicht stellen dürfen. Er zwang sich zur Ruhe, ließ seine Empfindungen in die kalte Stille seines Inneren fallen und brachte sie dort zum Erlöschen. Die Geräusche um ihn herum glitten von ihm ab wie der Regen, und er erinnerte sich an seinen Plan. Er musste abwarten und beobachten, wie die Dinge sich entwickeln würden. Es war nur eine Frage der Zeit, bis seine Stunde kommen würde.
    Avartos fixierte den Jungen im Restaurant mit seinem Blick. Dessen ungebetener Gast war unerwartet schnell wieder gegangen und hatte jede Menge Verwirrung zurückgelassen. Avartos konnte sie fühlen, die Unsicherheit und Furcht, die sich in diesen Momenten durch Geist und Körper des Jungen wühlten, er spürte die flachen Atemzüge und kurz darauf die trügerischen und doch so beruhigenden Wellen der Flucht, als der Junge sich jene merkwürdigen Vorkommnisse mit dem bisschen Verstand zu erklären versuchte, das in einem Geschöpf wie ihm vorhanden war. Er war schwach wie alle Menschen, daran bestand kein Zweifel, und doch … Der Samen ruhte in ihm. Lange war er im Verborgenen gewachsen, und nun stand er kurz davor, ins Licht hervorzubrechen. Als hätte er diesen Gedanken gehört, setzte der Junge sich in Bewegung und ging zur Tür.
    Avartos’ Muskeln spannten sich, und für einen Moment spürte er den letzten Atemzug des Jungen auf seinem Gesicht – jenen Atemzug, den schon unzählige seiner Art getan hatten, ehe sie in Avartos’ Armen gestorben waren. Er ließ seinen Blick über die schmale Gestalt des Jungen schweifen. Früher hätte er ihn mit einem Fingerzeig zu Asche verbrannt oder ihn mit seinen schwarzen Pfeilen durchbohrt, doch nun … Er ließ seine Knöchel knacken und entspannte die Hand, die er zur Faust geballt hatte. Nun hatte er andere Pläne.
    Sein Blick verfinsterte sich, als er zusah, wie der Junge die Tür schloss. Antonio Narrentum blieb nicht mehr viel Zeit. Der Junge stand bereits am Abgrund, und bald, sehr bald schon würde er den ersten Schritt in die Finsternis tun. Möglicherweise blieb Antonio dann keine Wahl mehr, und er würde erstmals in all der Zeit gegen seine Prinzipien verstoßen und einen von jenen zwingen, ihm zu folgen. Er ahnte nicht, dass Avartos ihn beobachtete, dass der Erste Offizier Ihrer Majestät nur darauf wartete, dass er den nächsten Schritt tat. Avartos spürte seinen eigenen Herzschlag, der nur alle paar Minuten einmal erklang, durch seinen Körper pulsen und in dem jämmerlichen Gemäuer unter ihm widerhallen. Er wartete schon lange auf den Moment, der nun in greifbare Nähe rückte, und entgegen jeder Vorschrift konnte er die
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