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Nephilim

Nephilim

Titel: Nephilim
Autoren: Gesa Schwartz
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Licht brauchte, um in der Dunkelheit zu sehen.
    Wenn er ein Herz gehabt hätte, wäre ihm nun das Blut schneller durch den Körper gerauscht. So fühlte er nichts als das tosende Gurgeln seines Hungers, als er Schritt für Schritt auf das Licht zutrat, lautloser als die Asseln unter seinen Füßen. Eine Kiste versperrte ihm die Sicht. Er witterte Menschenblut.
    Mit einer einzigen Bewegung zerschlug seine Faust das Holz und fasste nach dem, was dahinter war. Er ergriff etwas Zappelndes, ein schrilles Quieken zerfetzte die Luft. Wütend riss Bhrorok die Faust zurück und starrte auf die sich windende Ratte zwischen seinen Fingern. Mit einem Tritt stieß er die Kiste beiseite. Die Glühbirne über einem winzigen Tisch begann heftig zu flackern, als er sich näherte. Jemand hatte hier gesessen, ein Zettel lag dort und Stifte, und der Pullover – Bhrorok griff ihn mit der freien Hand und presste ihn sich vors Gesicht. Ein Mensch, ein Junge – der Junge.
    Er stieß einen Schrei aus. Schon stand der Wolf neben ihm, er stürzte sich auf den Pullover und verschlang ihn in einem Stück. Bhrorok drehte sich um sich selbst. Die Luft war grau geworden von seinem Gift, doch er witterte keinen Geruch von Tod, wenn man von der Ratte in seiner Faust und den Schaben hinter dem Wandputz einmal absah. Er war zu spät gekommen.
    Mit mächtigen Schritten stampfte er den Gang zurück zur Treppe und verließ das Restaurant, ohne sich um die Fassade zu kümmern, die ihm dabei im Weg stand. Polternd krachten die Steine auf die Straße. Er legte den Kopf in den Nacken, aber der Duft des Jungen war verschwunden, der Regen hatte ihn fortgespült. Der Wolf irrte ziellos umher, knurrend und jaulend wie unter Schmerzen.
    Bhrorok spürte, wie die Wut ihm in den Nacken stach. Zischend murmelte er den Zauber. Blut trat ihm aus den Augen und lief seine Wangen hinab. Dann sperrte er das Maul auf und ließ sie frei, die klebrigen Heuschrecken mit ihren ledernen Flügeln. Sie rissen ihm die Lippen auf, als sie ihn verließen, und ergossen sich als flirrende schwarze Wolke über die Straße. Ihre Flügel machten ein Geräusch wie brechende Kinderknochen, sie fraßen die Vögel, die unter dem Dachfirst schliefen. Dann stoben sie als schwarzer Fluss durch die Nacht davon.
    Bhrorok sah ihnen nach. Niemand entkam ihrer Gier. Sie würden ihn finden. Er strich seinem Wolf über den Kopf, seine weißen Finger gruben sich in das Fell wie in einen Berg schwarzer Maden. Dann hob er die tote Ratte vor seinen Mund und biss ihr mit wohligem Seufzen den Kopf ab.

5
    Nando rannte. Er hatte das Lager nicht fertig aufgeräumt und zu allem Überfluss auch noch das Licht brennen lassen – Signor Bovino würde ihm den Kopf abreißen. Aber jetzt gab es Wichtigeres. Er würde Mara nicht mit ihrem misslungenen Essen allein lassen, und wenn er dafür die kommenden Abende mit unbezahlten Überstunden verbringen musste, war das ein geringerer Preis als die nur halb verborgene Enttäuschung in Maras Blick, falls er nicht kommen würde.
    Er überquerte die Via dei Reti mit ihrem von den Schienen der Straßenbahnen zerschnittenen Pflaster und den heruntergekommenen Häusern, deren putzbröckelnde Fassaden von hektisch angeklebten Plakaten bedeckt waren. Die kleinen Geschäfte in den unteren Etagen hatten ihre Rolläden mit den Graffitis heruntergelassen, und während vereinzelt aus einem halb geöffneten Fenster der Fernseher dröhnte, hatte sich ein Klappladen aus seiner Verankerung befreit und schlug nun in raschem Staccato gegen die Hauswand. Das Geräusch begleitete Nandos Schritte ebenso wie das Rauschen des Wassers in den Rinnsalen zu beiden Seiten der Straße und das stetige Prasseln des Regens auf dem Asphalt, doch er hörte es kaum. Denn in seinem Kopf klangen Antonios Worte wider, deutlich und klar, als hätte er sie gerade erst ausgesprochen. Ich komme von einem Ort jenseits des Lichts. Nando schüttelte den Kopf, als könnte er Antonios Stimme so aus seinen Gedanken vertreiben.
    Er hatte schon einige merkwürdige Geschichten von den Obdachlosen gehört, die er nach Feierabend bewirtete, aber so ein seltsamer Kerl war ihm noch nie begegnet. Es ist ein Ort, wo Helden eine Heimat finden. Er sah Antonio vor sich, wie er rücklings über den Tresen flog, und schaute in seine schwarzgoldenen Augen, kurz bevor er gegangen war. Nando spürte den Schmerz in seiner Hand, der langsam und zäh von seinen Fingern ausströmte bis hinauf zum Ellbogen. Er hatte Antonio mit Wucht
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