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Vogelstimmen - Bernemann, D: Vogelstimmen

Titel: Vogelstimmen - Bernemann, D: Vogelstimmen
Autoren: Dirk Bernemann
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unnachvollziehbare Unordnung geraten ist, sondern die Angst, die ich fühle, ist konsequenter. Es ist die Angst, nichts festhalten zu können, was wichtig wäre für den Moment. Das Leben fließt runter, ist komplett mit Banalitäten vollgestellt, die es zu umschiffen gilt, wenn man sinnsuchend ist. Unter der Oberfläche, da lebt noch was, was eventuell Bedeutung hat. Unaufhaltsam fallen die Sekunden, unwiederbringbar.
    Die Drehtür des Eingangsportals des Seniorenheims St. Anna schlurft sich über einen abgeranzten braunen Teppich. Ich drehe mich hinein, in dieses Gebäude, und augenblicklich erfüllen langsam vor sich hinplappernde, teilweise gebrochene Stimmen und ein Automatenkaffeegeruch die Atmosphäre. Alles passiert hier in einer eleganten Langsamkeit. Eine alte Frau in einem grauen, blau geblümten Kleid geht auf einen Rollator gestützt an mir vorbei. Sie geht, wie jemand geht, der zwei Weltkriege überlebt hat. Sie schaut nicht auf, ihr Blick verfolgt scheinbar konzentriert ihre eigene Fortbewegungsart, ihren schleppenden, nach rheumatischer Qual aussehenden Gang. Ich gehe links an ihr vorbei. Die Halle ist voller frischer Luft, die aber schnell von allen Seniorinnen und Senioren weggeatmet wird. Anscheinend halten sich die mobilen Alten immer hier in der Nähe der Tür auf, um noch ein wenig die Außenwelt betrachten zu können und ab und an, wenn sich mal eben die Tür dreht, einen Schwung frische Luft in die Lungenbläschen zu lassen.
    Ich ging auf die Anmeldung zu. Frau Overberg. Natürlich. Frau Overberg. Es ist Sonntag. Frau Overberg lächelte. «Sie hat schon nach Ihnen gefragt», sanftmutete ihre Stimme, und ich nickte und lächelte zurück und wusste doch, dass sie log. Ihr Heileweltschmerzausdruck skizzierte ihre mentale Oberflächlichkeit in meine Richtung. Sie trug eine beige Strickjacke, und ihr rotwangiges Frauengesicht erzählte eine Geschichte vom Bluthochdruck. Vor sich hatte sie einen Kuchenteller mit einem halb aufgegessenen Stück Bienenstich, aus dem eine Kuchengabel ragte. Sie war einer dieser Menschen, dieser verdorbenen Helfersyndromfrauen, die sich ehrenamtsbekleidet in einem egozentrischen Hochgefühl suhlten. Sie gehörte zu jener Menschenriege, die sich ihr Herz frei spendeten, ihr Seelenheil in CDU-Politikern vermuteten und eben einen Sonntag «opfern», um an der Anmeldung eines Seniorenheims allsonntäglich ihre frustrierende Freude zu verschleudern.
    Ich kannte den Weg, es ist immer der gleiche. Durch den Flur, zwei Etagen treppauf. Und während ich so lief, veränderte sich der Geruch in meiner Nase und die Frequenz der mobilen Menschen, die mir auf dem Weg begegneten, sank rapide. Der Frischluftflavour aus dem Eingangsbereich wich beim weiteren Gehen durch den Gebäudetrakt einem Gemisch aus hochkonzentriertem Urin und einer abgestandenen Gewebewolke. Ab und an hörte ich aus den Zimmern Gestöhne, das Gestöhne alter Menschen, die sich erheben oder umdrehen und denen das zu viel oder zu schmerzhaft wurde.
    Im zweiten Stock angekommen hörte ich Frau Bender schreien. «Wota, wota, äh ... wota, wota, äh ...» Frau Bender bewohnte das erste Zimmer auf der linken Flurseite, und ich wusste um ihre Demenz und dass sie seit mehreren Wochen nur noch imstande war, diesen einen Slogan rauszudrücken. «Wota, wota, äh ... wota, wota, äh ...» Aber anstatt dieses Wortgebilde in sachlichem Ton vorzubringen, brüllte Frau Bender diesen in ihrem Zustand wahrscheinlich alles bedeutenden Satz durch den Flur. Ich ballte meine Faust in der Jackentasche, als ich an ihrer Zimmertür vorbeiging; ihr Gebrüll machte mich wütend, ich wusste nicht warum, wahrscheinlich weil ihr Zustand ein so unnachvollziehbarer war und ich jedes Mal mit der Unnachvollziehbarkeit ihres inneren Daseins konfrontiert wurde und vielleicht dafür einfach zu einfühlsam war. Zu viel Empathie würde mich irgendwann töten.
    Das war schlimm, dieser Kontrollverlust im Gehirn; das Einzige, was blieb, waren Worthülsen, die alle Gefühle und Gedanken ausdrücken mussten, die doch bestimmt auch Frau Bender noch hatte. Trauer, Wut, Liebe, Demut, Geilheit, alles war «Wota, wota, äh ...», und ich war froh, noch Worte zu haben, die mein diesbezügliches emotionales Nichtklarkommen beschreiben können. Ich hatte Frau Bender schon einige Male gesehen, und wenn man sie sah, dann wusste man einfach, dass in ihrem Leben noch mehr stattfand als eben jene ausgestoßene Dauerphrase. Frau Bender war ein armes Ding in
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